Der Kommandant und das Mädchen
daran, dass ich meinen Ehemann so sehr vermisse, sage ich mir. Weil ich schon so lange von ihm getrennt bin, reagiere ich so widersinnig gereizt auf das Verhalten des Kommandanten. Ich schlage das Buch auf und beginne zu lesen, aber nach nur wenigen Minuten fallen mir die Augen zu und ich döse ein.
Plötzlich lässt mich ein lautes Geräusch hochschrecken. Ich sitze sofort aufrecht im Bett und lege das Buch zur Seite. Wie lange habe ich geschlafen? Da ist das Geräusch wieder. Ein lauter, harter Knall, so als würde etwas die Glastür vom Balkon treffen. “Was soll denn das?”, murmele ich und stehe auf. Ich öffne die Tür und gehe auf den Balkon, dann sehe ich nach unten in den stockfinsteren Garten.
“Anna!”, höre ich jemanden im Flüsterton rufen. “Anna!” Es ist der Kommandant, wie ich ungläubig erkennen muss. “Ich bin es, Georg. Kommen Sie bitte nach unten.”
“Einen Moment”, antworte ich nach kurzem Zögern, gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mir rasch etwas über. Dann begebe ich mich auf der im Dunkeln liegenden Treppe nach unten und öffne die Haustür. “Was machen Sie denn hier?”
“Ich habe der Baronin gesagt, dass mir nicht gut ist, und sie nach Hause gebracht.”
“Oh …” Immer noch bin ich verwirrt. “Wie spät ist es?”
“Halb elf.”
“Mir kommt es viel später vor”, sage ich und reibe meine Augen. “Ich bin wohl eingeschlafen.”
“Anna.” Er ergreift meine Hand. “Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe. Ich wollte den Abend niemals mit einer anderen Frau verbringen.” Ich bin zu perplex, um zu reagieren. “Anna, kommen Sie mit und bleiben Sie heute Nacht bei mir. Bitte.”
Schweigend stehe ich da, während mir tausend Gedanken durch den Kopf gehen. Sich um diese Zeit noch umzuziehen und ihn nach Hause zu begleiten, erscheint mir nicht sehr damenhaft. Doch gleichzeitig möchte ein Teil von mir mit ihm gehen. Außerdem bekomme ich so wieder die Gelegenheit, nach wichtigen Dokumenten zu suchen. “Also gut”, willige ich schließlich ein. “Ich hole nur noch meinen Mantel.” Ich laufe nach oben, lege für Krysia eine hingekritzelte Nachricht auf den Küchentisch, nehme meinen Mantel und kehre zum Kommandanten zurück. Als ich in den Wagen steige, glaube ich zu sehen, dass sich auf Stanislaws sonst so ausdruckslosem Gesicht ein Lächeln abzeichnet.
Am Ziel angekommen, schaffen wir es kaum bis in die Wohnung des Kommandanten. Dort reißen wir uns gegenseitig die Kleider vom Leib. Die Leidenschaft erinnert an unsere erste gemeinsame Nacht, nur dass wir diesmal nicht das Schlafzimmer erreichen, sondern schon auf dem Sofa miteinander schlafen. Später, als der Atem des Kommandanten wieder ruhiger geht, hebt er mich hoch und trägt mich zum Bett. Diesmal bin ich diejenige, die ihn auf die Matratze drückt, indem ich rittlings auf ihm sitze. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Mann auf diese Weise Verkehr habe, und im ersten Moment kommt es mir fremdartig und schutzlos vor. Doch ich stelle mich schnell auf den Rhythmus ein, und schon bald verspüre ich das Gefühl, Macht über ihn auszuüben, da er mir ausgeliefert ist. Es gelingt mir, ein wenig vom Schmerz der letzten Tage freizusetzen und zum Teil den Stolz zurückzugewinnen, den ich verloren hatte.
“Wirst du bleiben?”, fragt er mich später schlaftrunken und versucht, sich von hinten an mich zu schmiegen, doch ich drehe mich auf den Rücken. Die Position erinnert mich viel zu sehr an die Art, wie mich Jakub hielt. “Bis zum Morgen, meine ich.”
Ich zögere. Bislang habe ich den Kommandanten immer vor Sonnenaufgang verlassen, aber wenn ich bleibe, könnte sich eher eine Gelegenheit ergeben, seine Unterlagen zu durchsuchen. “Ja”, antworte ich leise.
“Mmm”, macht er und schläft ein.
Auch mir fallen allmählich die Augen zu. Zuerst versuche ich noch, dagegen anzukämpfen, weil ich fürchte, dass ich verschlafen und damit die Chance verpassen könnte, mich in seinem Arbeitszimmer umzusehen. Ich muss sehr bald etwas finden, das ist mir klar. Seit über zwei Monaten begleite ich den Kommandanten regelmäßig in seine Wohnung, und die Pläne der Nazis, was mit den Juden geschehen soll, schreiten unaufhaltsam voran. Noch immer kann ich keine Informationen über diese Pläne liefern, da weder Papiere offen herumliegen, noch irgendwo ein Tresor zu entdecken ist. Ich stelle mir das Arbeitszimmer vor und überlege, was ich übersehen haben könnte. Vielleicht, so geht es mir plötzlich
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