Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Klang weit entfernt und brüchig war und ihm schien, als würde er sich von Zeit zu Zeit verändern. Außerdem drohten seine eigenen geräuschvollen Schritte und sein keuchender Atem den Ton zu überdecken. Ab und zu war er gezwungen stehen zu bleiben, die Hand hinters Ohr zu legen und den Tönen nachzulauschen. Und jedes Mal, wenn er anhielt, fiel es ihm wieder genauso schwer, dieses Gefühl abzuschütteln, dass er im Kreis gegangen war, dass er erneut am gleichen Fleck stand, an dem er sich erst vor ein paar Minuten befunden hatte.
Unter der gleichen Espe; dieser bleiche Mädchenkörper mit den dunklen Flecken erschien ihm zumindest bekannt. Oder aber der ganze Wald war voll mit ermordeten Teenagern, was ihm gelinde gesagt ein wenig übertrieben erschien. Er wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß vom Gesicht und hastete weiter, stolperte über Äste, Steine und Wurzeln, und endlich war der Glockenklang ein wenig deutlicher zu hören. Nach wenigen Augenblicken erreichte er den Waldrand und konnte die Kirche unten im Tal sehen. Die letzten Besucher strömten gerade hinein. Er rannte das letzte Stück den Abhang hinunter und schaffte es gerade noch, ins Innere zu gelangen, bevor die schweren Türen sich schlossen.
Schließlich war es seine eigene Hochzeit; und trotzdem empfand er keine Dankbarkeit dafür, dass er es geschafft hatte und noch rechtzeitig gekommen war. Eher eine Art trauriger Resignation, die wie ein Druck auf seinen Schultern und Schläfen lastete, während er ganz hinten in dem Dämmerlicht stand und versuchte, seinen Atem zu normalisieren. Seine Braut befand sich bereits auf ihrem Platz vor dem Altar. Sie trug ein Gewand aus gebleichtem Baumwollstoff, aber ihr Haarschopf war von viel versprechendem Kastanienbraun, und er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Insgesamt gesehen. Die Gemeinde war offenbar in eine Art Gebet versunken, und die Glocken dröhnten weiterhin, während er – nicht ohne eine gewisse Würde – sich den Mittelgang entlang auf seine ihm zugedachte Ehefrau zubewegte. Als er vorsichtig nach rechts und links spähte, konnte er außerdem feststellen, dass sich keine irgendwie Bekannten unter den Menschen auf den Bänken zu befinden schienen. Nur fremde, verkniffene Gesichter überall, in einer Reihe nach der anderen, und niemand, der seinem Blick auch nur mit einem kurzen Seitenblick begegnete.
Endlich war er vor dem Altar angekommen und legte zögernd seine Hand auf die Schulter der Braut. Sie drehte sich mit einem Ruck um – sodass die billige Perücke verrutschte –, und er konnte sehen, dass es Renate war. Die gleiche verfluchte Renate wie immer, und mit einem bösartigen Lächeln auf den Lippen zischte sie: »Jetzt habe ich dich! Diesmal kommst du mir nicht davon!« Und als er sich voller Verwirrung und rechtschaffener Wut an den Pfarrer wandte – der gerade seine Hände in einem Becken geäderten Marmors gereinigt hatte und sich anschickte, mit der Zeremonie zu beginnen –, sah er, dass dieser lange, rattenfarbene Haare hatte, ein geflicktes Brillengestell trug und dass er mit der Braut unter einer Decke steckte. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie lächelten sich schamlos an, der Priester und die Braut, und ihm war klar, dass er das Spiel verloren hatte. Der ganze Wald war voll mit toten Mädchen, er sollte unter der Aufsicht dieses verfluchten Sektenführers Renate noch einmal heiraten, und wie sehr er
auch seine Anzugtaschen durchsuchte, er konnte nirgends seine Dienstwaffe finden. Die Wahrheit war natürlich, dass er sie in irgendeiner Schreibtischschublade in seinem Dienstzimmer im Maardamer Polizeihaus vergessen hatte, genau wie immer, und während er resigniert – und in einer bis ins Unendliche erweiterten Zeitlupe – neben seiner triumphierenden Braut auf die Knie sank, wurde der Glockenklang lauter.
Stieg an und verzerrte sich in polyphone Variationen, die den alten Meister Bach in den Wahnsinn getrieben hätten, und schließlich wurde alles so bizarr und unerträglich, dass ihm klar wurde, dass er diesem Elend ein Ende bereiten musste, wenn er nicht noch die allerletzten Tropfen seiner gesunden Flüssigkeiten verlieren wollte.
Er streckte den Arm aus, hob den Hörer und meldete sich.
Es war Kluuge.
Der Hauptkommissar rappelte sich hoch und räusperte sich so laut und intensiv, dass er den ersten Satz des Polizeianwärters nicht mitbekam.
»Was hast du gesagt?«
»Guten Morgen, Hauptkommissar«, wiederholte Kluuge. »Habe
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