Der Kommissar und das Schweigen - Roman
wir bis jetzt wissen, irgendwann am Sonntagabend ermordet. . . vorgestern also mit anderen Worten. Alle Spuren von rigor mortis waren schon verschwunden, als ich sie gefunden habe, also nicht später als zweiundzwanzig Uhr, meint der Arzt. Vermutlich auch nicht vor sechs, aber das wissen wir noch nicht sicher. Um wie viel Uhr hat der Hauptkommissar mit ihr geredet?«
»Gegen zwei«, sagte Van Veeteren.
»Äußerst grobe sexuelle Gewaltanwendung gegen den Unterleib«, fuhr Kluuge fort. »Erwürgt durch festen und lang anhaltenden Druck auf den Kehlkopf, wahrscheinlich an einem anderen Ort als dem Fundplatz. Es wurde keinerlei Kleidung gefunden. Auch kein Fingerabdruck auf dem Körper ... tja, das ist wohl im Großen und Ganzen alles, was wir bis jetzt haben. Irgendwelche Kommentare dazu?«
»Gewaltanwendung gegen den Unterleib ...?«, wiederholte Suijderbeck. »Dann ist es mit anderen Worten nicht sicher, ob wir es hier mit einer gewöhnlichen Vergewaltigung zu tun haben. Ich denke, das sollten wir im Hinterkopf behalten.«
Van Veeteren nickte. Kluuge schrieb etwas auf seinen Block.
»Was willst du damit sagen?«, wunderte Servinus sich und schaute ihn skeptisch an.
»Ich weiß nicht«, sagte Suijderbeck. »Ich dachte nur, es könnte nützlich sein, sich das zu notieren.«
Er zog ein Päckchen Zigaretten hervor und schaute sich fragend um. Kluuge nickte und zog einen Aschenbecher heran. Van Veeteren machte deutlich, dass er nichts dagegen hätte, wenn ihm eine angeboten würde.
»Hast du schon die Eltern erreicht?«, fragte der Hauptkommissar, nachdem er einen tiefen Lungenzug gemacht hatte.
»Nein«, erklärte Kluuge. »Einen Papa gibt es übrigens nicht. Jedenfalls nicht mehr. Die Mutter befindet sich auf einer Busreise durch Indien, das kann noch dauern, bevor wir zu ihr Kontakt kriegen. Aber eine Tante ist auf dem Weg hierher, wir hatten das Glück, wenigstens sie zu erwischen.«
»Glück?«, fragte Suijderbeck. »Wieso ist das ein Glück?«
Gute Frage, dachte Van Veeteren. Kluuge zögerte.
»Nun ja, zumindest kann sie bei der Identifizierung helfen. . . es muss ja wohl ein Angehöriger sein, damit alles rechtens ist.«
»Ja, ja«, sagte Servinus und schob sich im Sofa hoch. »Dieses Detail kann sicher geregelt werden. Aber ist es nicht langsam an der Zeit, dass ihr uns mal über diese ganze Brühe in Kenntnis setzt? Ich habe das Gefühl, reichlich im Trüben zu fischen, muss ich sagen ...«
»Ja, natürlich«, sagte Kluuge. »Aber so viel gibt es da gar nicht. Nun ja, wie soll ich sagen? Es fing also vor einer Woche damit an, dass ein anonymer Anruf von einer Frau hier einging. . .«
Van Veeteren lehnte sich zurück und schloss die Augen, während Kluuge den Kollegen aus Rembork die Vorgeschichte erzählte. Er versuchte seinen Hörsinn abzuschalten und dachte stattdessen darüber nach, wie oft er eigentlich im Laufe seiner Jahre bei der Kriminalpolizei in solchen Runden gesessen hatte.
Im Laufe all dieser Jahre.
Es mussten Hunderte und Aberhunderte solcher Sitzungen gewesen sein, trotzdem musste er sich eingestehen, dass es nicht unmöglich sein würde, sich wieder jede Einzelne von ihnen ins Gedächtnis zurückzurufen. Fall für Fall. Zumindest wenn ihm die Zeit dafür geschenkt würde ... denn es lag etwas ganz Besonderes über diesen Spieleröffnungen, etwas fast Einzigartiges. . . in diesem frühen Stadium, in dem das meiste der logischen Struktur, die sich immer hinter jedem Verbrechen versteckte – und hinter den meisten anderen menschlichen Handlungen natürlich auch –, noch verborgen und in weiter Ferne lag. Getarnt und verkleidet.
Aber vielleicht war der Begriff Spieleröffnung in diesem Zusammenhang auch das absolut falsche Wort. War es nicht eher das Gegenteil? Das Einzige, was man in den Händen hielt, war doch der letzte Zug. Und worum es eigentlich ging, das war doch, die ganze Partie zu rekonstruieren – von der Endaufstellung aus, mit dem eingekreisten und matt gesetzten König (dem ermordeten Studienrat, dem vergifteten Restaurantbesitzer, dem erwürgten und vergewaltigten Mädchen ...) im Mittelpunkt. . .
Bis es einem schließlich gelang, den Pulverdampf und die Nebelschwaden so weit vom Brett zu vertreiben, dass man klarer sah, dass man begriff, was verdammt noch mal passiert war. Und warum es passiert war.
Um dann – letztendlich – den Blick zu heben und den Gegner auf der anderen Seite des Bretts zu identifizieren.
Den Täter.
Hm, dachte er. Vielleicht
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