Der Kommissar und das Schweigen - Roman
verschwand hinter einer Wand aus schäumenden und hochpeitschenden Wassermassen.
Die Elemente wüten, dachte der Hauptkommissar. Oje.
Als es vorbei war, hatte er gerade die Rechnung unterschrieben und stellte erfreut fest, dass die Luft plötzlich wieder leichter zu atmen war. Im Großen und Ganzen. Nach dem Übelkeit erregenden Sauerstoffmangel im Gehirn, der eine Woche angehalten hatte, erschien es plötzlich wieder möglich, einen klaren Gedanken zu fassen und ihm nachzugehen.
Möglicherweise bin ich doch nicht so fürs Mittelmeer geschaffen, stellte er mürrisch fest und erhob sich vom Tisch.
Was dieser schwere Regeneinbruch für die Spürhunde draußen in Waldingen bedeutete, darüber konnte wohl kaum ein Zweifel bestehen. Falls dort draußen im Wald überhaupt irgendwelche Spuren zu finden gewesen waren, so war es nach einem Regen wie diesem sicher nicht einfacher geworden, sie zu deuten.
Die Götter treiben ihr Spiel mit uns, kam ihm in den Sinn. Die ziehen an den Fäden, damit die Marionetten auch gehorchen. Spülen alles sauber mit dem Regen, und wir stehen wie begossene Pudel da. Seine henkellose Aktentasche unterm Arm und zwei Zahnstocher im Mund, begab er sich auf den Weg in den Ort, zum Kleinmarckt. Er versuchte den Rinnsalen und Pfützen auszuweichen, aber das Sielsystem hatte nicht die Dimensionen, um so große Wassermassen aufzunehmen, und als er am Florian’s vorbei kam, war er bereits weit bis über die Knöchel nass. Was gar kein so unangenehmes Gefühl war, wie er überrascht feststellte – sondern fast erfrischend. Und mit einem Gefühl der Klarheit und Konzentration schaffte er es ein paar Minuten später, die Polizeiwache von Sorbinowo zu betreten. Bereit für alles, was auf ihn zukommen würde.
Wir werden diesen Mist schon entwirren, dachte er. Früher oder später.
17
Servinus und Suijderbeck hatten offenbar ihre Order für Sorbinowo verlängert bekommen. Sie saßen nebeneinander unter dem Ölgemälde des Vorgängers von Malijsen, eines gewissen J. Stagge, und Van Veeteren konnte gleich sehen, dass ihnen noch weniger Schlaf vergönnt gewesen war als ihm selbst. Vielleicht gar keiner. Man hatte sich irgendwann gegen sechs Uhr draußen bei der Kolonie voneinander verabschiedet, und es war nicht ausgeschlossen, dass sie seitdem zugange gewesen waren. Kommissar Suijderbeck hing in seiner Ecke, das eine Bein in einem eigenartigen, lang gestreckten Winkel von sich gestreckt, und erst jetzt bemerkte der Hauptkommissar, dass er eine Art Prothese trug. Die wahrscheinlich an einem Punkt kurz unter dem Knie ansetzte. Dass ihm das im Laufe der Nacht nicht aufgefallen war, musste man wohl als eine gewisse Unkonzentriertheit deuten.
Außerdem konnte er sich nicht daran erinnern, jemals zuvor auf einen Kriminalbeamten mit einem Holzbein gestoßen zu sein. Er überlegte vage, welche Umstände wohl dazu geführt haben mochten. Vermutlich keine besonders schönen, und jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, ihn darauf anzusprechen.
Am anderen Ende des Tisches saß Kluuge, einen großen Notizblock vor sich aufgeschlagen. Er sah genauso fit aus, wie er schon am Telefon geklungen hatte, und Van Veeteren begriff, dass die Metamorphose anhielt. Er nickte einen Morgengruß und setzte sich auf den einzigen freien Stuhl.
»Mahlzeit«, sagte Kluuge. »Ja, dann können wir anfangen.«
»Ist das das gesamte Team?«, fragte der Hauptkommissar.
Kluuge schüttelte den Kopf.
»Nein. Wir haben noch zwei Kollegen draußen in Waldingen. Weibliche Inspektoren aus Haaldam. Und dann ist da Matthorst im Wolgershuus, der die Frauenzimmer im Blick hat ... ja, und die Patrouille ist wohl immer noch draußen und
durchsucht den Wald, aber die werden wahrscheinlich heute Abend fertig sein.«
»Wahrscheinlich, ja«, sagte Van Veeteren und betrachtete seine nassen Schuhe.
»Wollen wir den Fall einmal durchgehen«, schlug Suijderbeck vor und unterdrückte ein Gähnen. »Ich brauche so schnell wie möglich eine Mütze Schlaf. Ich nehme an, dass wir noch ein paar Tage hier bleiben werden, oder was denkst du?«
Er warf seinem Kollegen auf dem Sofa einen Blick zu.
»Mmh«, sagte Servinus und gähnte auch. »Ich habe jedenfalls vor, mich umgehend ins Auto zu setzen und zurück nach Rembork zu fahren. Üble Geschichte, das Ganze, nicht wahr?«
»Ganz meine Meinung«, stimmte Kluuge zu. »Ich denke, wir sollten mit den Tatsachen anfangen, oder was meint ihr? Das Mädchen heißt also Clarissa Heerenmacht und wurde soweit
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