Der Kommissar und das Schweigen - Roman
umso schneller verfiel man ihm – zumindest gewissen Exemplaren. Das war auch nichts Neues.
Beim Einwohnermeldeamt hatte er zumindest erfahren, dass Ewa Siguera nicht in Stamberg gemeldet war. Er hatte Lauremaa und Tolltse außerdem gebeten, den Konfirmandinnen ihr Bild zu zeigen, aber soweit er gehört hatte, war auch aus dieser Richtung keine Hilfe gekommen.
Das Mystische nimmt immer breiteren Raum ein, dachte er
mit bitterer Selbstzufriedenheit. Dann holte er einen zerkauten Zahnstocher hervor und schüttelte den Kopf. Verdammte Scheiße, stellte er fest, ich bin die Karikatur eines Kriminalbeamten! Ein Schatten meiner selbst. Ist es nun ein Mörder oder eine Frau, hinter der ich her bin? Im wieder erhitzten kalten Schweiße meines Angesichts? Eine mit kastanienbraunem Haar?
Nach einigen Stunden nutzloser Suche hatte er Reinhart angerufen und ihm die Arbeit übertragen. Ihn gebeten, Ewa Siguera ausfindig zu machen, und ihn umgehend zu informieren, wenn er sie aufgetrieben hatte. Natürlich hätte es andere Möglichkeiten gegeben, aber da er den Verdacht hatte, dass der Kommissar sowieso nur dasaß, Däumchen drehte und auf seinen Urlaub wartete – oder sich seiner schönen, frisch angetrauten Ehefrau widmete –, war es wohl genauso gut, ihn etwas für sein Geld tun zu lassen.
Reinhart hatte auch nicht viel dagegen einzuwenden gehabt. Loyal hatte er versprochen, von sich hören zu lassen, sobald er etwas fand. Spätestens nach vierundzwanzig Stunden.
Dann musste die Vermutung mit den Daumen und der Ehefrau wohl genau ins Schwarze getroffen haben.
»Und wie geht es dem Bluthund selbst?«, hatte Reinhart noch gefragt. »Sonne, Baden und Angeln, den ganzen Tag lang?«
»Du hast den Wein und die Weiber vergessen«, erwiderte Van Veeteren.
Er fing bei den Finghers an, nachdem er festgestellt hatte, dass sie zu Hause waren.
Frau Fingher, eine sehnige Bäuerin in den Fünfzigern, konnte er gerade noch begrüßen, sie war soeben auf dem Weg zu einem Enkelkind, wie sie mitteilte und dann an ihm vorbeihuschte, hinaus zu einem selbst gestrichenen alten Trotta, der draußen auf dem Weg parkte, aber sowohl Herr Fingher als auch der Sohn Wim schienen genügend Zeit für eine Plauderstunde zu haben.
»In erster Linie bin ich diesmal an dem Sonntagabend interessiert«, erklärte der Kommissar, nachdem sie sich unter dem Schatten einer Kastanie auf die Gartenmöbel gesetzt hatten.
»Sonntagabend?«, wiederholte Fingher. »Wim, lauf doch mal und hol ein paar Biere. Der Kommissar trinkt doch auch ein Pils?«
»Da sage ich nicht nein«, erklärte Van Veeteren, und der Sohn schlurfte zurück ins Haus.
»Und warum?«, fragte Fingher. »Was wollen Sie denn vom Sonntagabend wissen?«
»Können Sie mir sagen, wann die aus Waldingen hier bei Ihnen waren und ob etwas anders war als sonst?«
Fingher dachte nach, und der Sohn kam mit dem Bier.
»Nein, alles war genauso wie immer, jedenfalls soweit ich mich erinnere. Oder was meinst du?«
Er schaute Wim an, der aber nur mit den Schultern zuckte.
»Und wann?«, fragte Van Veeteren.
»So gegen sieben, halb acht. Wie immer.«
Wim Fingher nickte bestätigend, und alle drei nahmen einen Schluck Bier. Es war unerwartet süß, und Van Veeteren überlegte, ob es sich vielleicht um selbstgebrautes handeln könnte. Den Flaschen auf dem Tisch fehlte das Etikett, also war der Gedanke nicht vollkommen unbegründet.
»Gut«, sagte er. »Und war Jellinek dabei?«
»Was? Ja, natürlich.«
»Und vier Mädchen?«
»Vier Stück.«
»Kannten Sie das Mädchen auch, das ermordet wurde?«
Fingher nickte ernst.
»Ja, natürlich. Sie war ja ein paar Mal hier, genau wie die anderen. Es ist einfach schrecklich, wenn man nur eine Ahnung gehabt hätte, dann ...
»Was dann?«, fragte Van Veeteren.
»Ach, Scheiße, was weiß ich. Kastrieren sollen hätte man diesen verfluchten Schwarzrock oder so. Ich kann verflucht
noch mal nicht begreifen, wie jemand sein Kind an solch einen Ort schicken kann. Wir haben ja nur Wim, aber wenn ich eine Tochter hätte, dann würde ich zusehen, dass sie im Haus bleibt, wenn so einer in der Nähe wäre ... .«
Plötzlich schienen sich Wut und Verdruss über seine Worte zu legen, und er verstummte. Van Veeteren trank einen Schluck und ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr:
»Ist Ihnen am Sonntag irgendwas an Jellinek aufgefallen?«
»Scheiße«, fluchte Fingher. »Nein, keine Ahnung. Was meinst du, Wim?«
Mathias Fingher leerte sein
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