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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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systematisch wie vergeblich.
Ich stieg der Reihe nach in jedem Stockwerk aus. Meistens endeten
meine Erkundungen abrupt in einem Vorzimmer mit schweren,
undurchdringlichen Türen in den Marmorwänden. Der
Fahrstuhlgürtel war nur für jene ein Schlüssel, die
mit der Festung vertraut waren, ein Passierschein
ausschließlich für Eingeweihte. Erster Stock: der Bahnhof
für die Magnetschwebebahn. Dreiundzwanzigster Stock: unsere
Suite. Zweiundzwanzigster Stock: Kusks Arbeitszimmer.
Fünfundachtzigster Stock: der Hörsaal und die
Phrensamenschule. Hundertster Stock: das Gewächshaus.
    Zu dieser Liste kam noch der achtundfünfzigste Stock. Hier
gab es weder Schlösser noch Türen im Vorzimmer, sondern nur
den schmucklosen Zugang zu einem steinernen Korridor. Auf einem
Schild stand BANKETTSAAL.
    Während ich durch den feuchtkalten, zylindrischen, hell
erleuchteten Korridor schlich, kam mir unwillkürlich Die
blasphemischen Taten des Herrn Spatz in den Sinn, ein
Avantgarde-Zephapfel, in dem man durch das ausgedehnte Gedärm
einer heiligen Kuh reist. Stimmen hallten von den Steinen wider.
Daran war nichts Geheimnisvolles; in der Burg fand wahrscheinlich
jeden Abend ein lärmendes Fest statt. Ich näherte mich
langsam und vorsichtig und atmete dabei feuchte, graue Luft. Die
Stimmen wurden lauter und verstummten dann eine nach der anderen, bis
nur noch ein tiefer Baß übrigblieb. Ich kannte ihn; er
gehörte dem Regisseur der Knochenjongleure.
    Torin Diffring brüllte sich die Mandeln aus dem Hals.
    Inzwischen wußte ich, wie es um die Realität in der
Kharsog-Festung bestellt war. Es schien nur normal zu sein, daß
der Bankettsaal größer war als der Hangar eines
Vulkanbombers, daß er von einem ungeheuren Gasball der gleichen
Art erleuchtet wurde, der auch die Hamadryade auf dem unterirdischen
Kontinent hatte reifen lassen, daß er von einem
Gestaltwandlungsfeuer geheizt wurde, das in einem Kamin von der
Größe eines Grorgmauls brannte, daß die unterste
Tür von Greifen aus Granit flankiert wurde, daß riesige
hölzerne Raben mit Augen aus Jade auf den Lehnen der Stühle
an der Tafel thronten und daß die Tafel selbst eine polierte
Marmorplatte von einem Gewicht und einer Länge war, die
ausreichten, um ein Dutzend aneinandergrenzender Gräber zu
verschließen. Die einzige wirkliche Überraschung war ein
Gegenstand von verhältnismäßig bescheidenen
Proportionen. Nicht weit von der Tafel entfernt standen drei von
Torins Schauspielern auf einer Holzplattform, darunter auch Jonnie.
Es war eine Bühne der kargsten Sorte – keine Prospekte,
keine Rampenlichter, kein Proszenium, kein Vorhang. Die einzigen
Requisiten waren fünf Holzkisten, die alle in verschiedenen
Farben gestrichen waren; auf einer davon lag eine große, von
einer Kruste überzogene Pastete. Ein solcher Minimalismus ergab
durchaus Sinn, fand ich, weil die Knochenjongleure etwas
praktizierten, was manchmal als ›armes Theater‹ bezeichnet
wird, als Theater im Rohzustand.
    Torin stand auf der Tafel und lief wie ein gefangenes Raubtier hin
und her. Er hatte ein Exemplar seines Thyestes- Skripts in der
Hand, wie jeder der Schauspieler, was den Zorn des Regisseurs
erklärte. Jonnie konnte seinen Text noch nicht auswendig. Er war
noch nicht ›aus dem Buch heraus‹. Sein Mitspieler auch
nicht, ein angespannter Bursche mit einem dürren Hühnerhals
und einer dazu passenden schnabelartigen Nase. Seine zweite
Mitspielerin ebenfalls nicht, eine gertenschlanke Frau, deren Gesicht
mit den raffinierten Bewegungen eines Neckerschen Würfels
zwischen Reizlosigkeit und Sinnlichkeit hin und her changierte.
    »Ihr habt gesagt, ihr wärt bis heute abend aus dem Buch
heraus«, schäumte Torin. »Das habt ihr alle gesagt. Seht zu, daß ihr aus dem gottverdammten Buch
rauskommt, oder ihr seid aus dem gottverdammten Stück
draußen!«
    »Ja, Liebling«, sagte die Neckersche-Würfel-Frau
halb herablassend und halb zerknirscht.
    »Nun wein doch nicht gleich«, sagte der
Hühnermann.
    »Noch drei Tage bis zum Bankett!« rief Torin. »Das
sind neunzig Standardstunden, fünftausendvierhundert
Standardminuten, dreihundertvierundzwanzigtausend Standardsekunden
und weniger Chrononen als ihr glaubt – tick tack, tick
tack!« Er kanalisierte seine ganze Frustration in seinen linken
Absatz, den er gegen die Platte hämmerte und dann als Drehpunkt
benutzte. Seine Kehrtwendung brachte mich ins Blickfeld seiner
stechenden Augen. »Kommen Sie her!« sagte er.
Ȇbernehmen Sie doch die

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