Der Kontinent der Lügen
welche«, sagte ich. Dann entstand
plötzlich ein Schweigen, einer jener Momente der Stille, die
nicht beabsichtigt sind, aber trotzdem manchmal eintreten. In der
Stille konnten wir das Knistern des Gestaltwandlungsfeuers, das sich
vom Schmetterling über den Vogel und den Widder zum Tiger
entwickelte, und die hallenden Stimmen von Torin und der Neckerschen
Frau hören, die sich über einen Aspekt der
Charakterzeichnung stritten.
»Das ist alles ziemlich verrückt«, sagte ich
schließlich. »Ich hoffe, du weißt das. Es ist wie
ein Stück aus einer gottverdammten Traumkapsel.«
»Im Moment hält mich nur eins davon ab, zu Kusks
Mörder zu werden.«
»Und was?«
»Daß Lilit noch in der Burg ist. Du mußt sie zur
Witwe Flumm bringen. Wenn Kusk eine Verschwörung wittert, wird
er sich an ihre Fersen heften, das weiß ich.«
»Du würdest einen guten Vater abgeben«, sagte ich
und zeigte ihm die zwei Fahrkarten für die Magnetschwebebahn,
die Kusk mir früher an diesem Tag gegeben hatte.
»Meine Gefühle für Lilit sind nicht gerade
väterlicher Natur. Darüber wollte ich gern mal mit dir
reden, Quinjin. Wenn wir Kusk aus dem Weg geräumt haben, werden
wir beide diese Burg mit dem Operationsbesteck eines Chirurgen
auseinandernehmen – wir werden hinter die Wandteppiche und in
die Vasen schauen, bis wir einen Hinweis darauf finden, wie er diesen
Lotosfaktor zusammengebraut hat und was die richtige Therapie
dafür sein könnte. Und wenn wir’s nicht schaffen, wird
das nicht das Ende unserer Suche sein. Nein, wir werden mit meiner Fleischtopf von einem Ende des Terransektors zum anderen
fliegen – wir werden Ärzte aufsuchen, Psychiater
konsultieren, Quacksalbern zuhören, Schamanen ausprobieren,
Forscher anheuern und Politiker bestechen. Und wenn wir das
Gegenmittel finden, wenn Lilit ihr ›Ich‹
zurückbekommt, wird sie nicht lange brauchen, um zu erkennen,
daß der ausgeflippte Jonnie alles tut, was er kann, damit sie
zu ihm sagt ›Ich liebe dich‹.«
»Du liebst sie?«
»Ich liebe sie. Soll ich dir ein schmutziges Bild
malen?«
»Du bist ein Alptrinker«, sagte ich trotzig.
»Damit höre ich auf.«
»Okay, okay. Ist schon in Ordnung, wirklich. Ich will dir
sogar mal was sagen. Sie war damals richtig verknallt in dich. Sie
hat ununterbrochen… von… dir… geredet. Sie…
hat… gesagt…« Ich merkte, daß ich gleich weinen
würde. »Ich kann nicht daran denken.«
»Natürlich nicht.«
Zwei Tränen und mehrere Schluchzer, und ich schämte mich
kein bißchen dafür.
Jonnie riß die sechzehnte und siebzehnte Szene aus seinem
Skript. Er zerknüllte jede Seite mit dem Aplomb des Zentauren,
der die Fahrkarten für die Magnetschwebebahn zerstört
hatte. Das Feuer knisterte. Die Knochenjongleure zankten sich. Jonnie
trat auf den Korridor hinaus und ließ dabei die alten Szenen
hinter sich fallen, ein Blatt nach dem anderen – Hänsel,
der seine Fährte der Hoffnung legte.
Wenn der Grorg einen siebten Magen hätte, dachte ich, als ich
am nächsten Abend den Bahnhof betrat, könnte er nicht
trostloser sein als dieser Ort. Das einzige Licht kam von dem
Pendelzug selbst, der wie eine Schlange mit zwanzig Augen auf seiner
Führungsschiene lag. Hinter der gewölbten Decke
stürmten die nächtlichen Winde auf die Schneeflocken
ein.
Meine Tochter schlief tief und fest; es war der
unerschütterliche Schlaf der allzeit Erleuchteten, was für
unsere Mission von elementarer Bedeutung war. Wenn sie wach gewesen
wäre, hätte sie sich natürlich genauso benommen, wie
Kusk es so zungenfertig vorhergesagt hatte; sie hätte behauptet,
wir seien Entführer, und geschrien, wir hätten kein Recht,
sie von Gott zu trennen. Sie lag quer über Urillas Armen, wurde
also genauso getragen wie die Opfer der Affenmonster in Die Rache
der Australopithecinae. Die Lichter des Zuges machten viel
Aufhebens von Lilits weißen Haaren.
Der Zentaur, der unermüdlich Wache hielt, kam summend an und
unterzog die Fahrkarten einem prüfenden Blick, der das gesamte
elektromagnetische Spektrum umfaßte. Als er sich von ihrer
Echtheit überzeugt hatte, sagte er hochnäsig: »Drei
Fahrgäste, aber nur zwei Fahrkarten.«
»Ich fahre nicht mit«, erklärte ich. »Ich habe
hier noch zu tun.«
Entweder aus Anstand oder aus Langeweile – ich weiß
nicht, was es war – begab sich der Zentaur zur Rückwand des
Bahnhofs, so daß ich die Möglichkeit hatte, mich
ungestört zu verabschieden. Ohne daß der Zentaur es ahnte,
hatte ich dadurch
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