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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Regie!«
    Er warf das Skript in meine Richtung. Es flatterte mir auf
Papierflügeln in die Arme.
    »Ich will bloß zuschauen«, sagte ich.
    Torin lächelte. Das Lächeln blieb auf seinem Gesicht,
und seine Wut war gleich darauf verraucht. Er drehte sich um und ging
zur Bühne. Seine Schritte hallten dumpf über den Marmor.
»Hat jemand was dagegen, wenn Mr. Longslapper uns bei unseren
bescheidenen Bemühungen zusieht, das Lotos-Institut nach dem
Abendessen ein bißchen zu unterhalten?«
    »Ist mir recht«, sagte die Neckersche Frau.
    »Er kann ruhig hierbleiben«, sagte der
Hühnermann.
    »Hallo Flick«, sagte Jonnie.
    Ich zog mir einen Stuhl mitsamt Schutzraben heran und setzte mich,
immer noch mit dem Skript in der Hand.
    »Vergessen wir den Dialog«, sagte Torin zu seiner
Truppe. »Für den Rest des Abends werden wir am Charakter des Stücks arbeiten.«
    »Gute Idee«, meinte der Hühnermann.
    »Wir wollen uns in uns selbst versenken«, sagte Torin,
wobei er die Hände unter seinen Gürtel mit der
Fahrstuhlsteuerung steckte. »Wenn die sechzehnte Szene
überhaupt etwas aussagen soll, muß das Publikum
fühlen, was für eine Qual es euch bereitet hat, das zu tun,
wozu Atreus euch gezwungen hat. Schon richtig, ihr seid bloß
Diener, ihr habt nur gehorcht, aber eure Komplizenschaft bei dem
Verbrechen beginnt euch innerlich aufzufressen. Ich will dieses
Schuldgefühl spüren und nicht nur im Text
hören. Ich will, daß es sich in euren Gesten
ausdrückt. In eurem Atem. Ich will, daß das
Schuldgefühl von der Bühne rinnt und das Publikum ansteckt
wie eine Seuche.«
    Ich blätterte im Skript, bis ich die sechzehnte Szene fand.
Sie handelte hauptsächlich davon, wie sich die Diener ins
Gedächtnis zurückriefen, daß ihr Herr – Atreus
– ihnen vor kurzem nicht nur eine Leiche gebracht, sondern auch
die Anweisung gegeben hatte, deren Kopf in eine Pastete einzubacken.
Die Leiche war natürlich das Lieblingskind von Thyestes,
Atreus’ Todfeind. Die Diener hatten Atreus’ Befehl voll und
ganz Folge geleistet, und nun plagte sie ihr Gewissen; die Szene
endete mit der Erkenntnis, daß ihnen beiden der Mut fehlte, zur
Polizei zu gehen. Torin schien hier die eine oder andere Anmerkung zu
den Themen Selbsttäuschung und Apathie machen zu wollen.
    »’tschuldige, Liebling«, sagte die Neckersche Frau,
»aber das ist ’n Haufen Dünnschiß, und du
weißt es. Kharsog hat uns nicht engagiert, damit seine
Schüler sehen, wie Schuldgefühl aussieht. Er hat uns
engagiert, damit wir ihnen solche Angst machen, daß sie sich
die Zähne aus dem Schädel klappern.«
    »Wirklich das Einfachste von der Welt«, meinte der
Hühnermann.
    »Als ob man ’ne Kuh zum Lachen bringen wollte«,
ergänzte die Neckersche Frau.
    Der Regisseur setzte sich auf den Rand der Platte und zog einen
Flunsch. »Ja, ja – aber angst machen ist nicht das
richtige Wort. Wir sollen sie beunruhigen. Kharsog will,
daß wir die Schüler beunruhigen. Aber du hast recht –
der gebackene Kopf bringt’s einfach nicht. Jeder wird sagen:
›O Mann, was für ’ne olle Kamelle.‹ Ist sowieso
eine alberne Idee.«
    »Shakespeare hat sie auch benutzt«, sagte der
Hühnermann verteidigend. Er befürchtete, daß Torin
drauf und dran war, seine Rolle aus dem Skript zu streichen.
    Plötzlich war Torin auf den Beinen und hüpfte
vergnügt auf der Platte herum, als ob er gleich Rad schlagen
wollte. »Ah-hah! Ah-hah! Ich hab eine geniale Idee, Leute! So
muß die Show enden!«
    Die Augenbrauen des Hühnermanns verzogen sich sardonisch.
»Du hast noch nie einen Diffring-Brainstorm miterlebt, was,
Jonnie? Spann am besten schon mal deinen Regenschirm auf.«
    Mit einer einzigen gleitenden Bewegung sprang Torin von der Tafel
auf die Bühne und schnappte sich die Pastete. »Der erste
Schritt ist, dieses blöde Ding hier rauszuwerfen!«
    Er schleuderte sie wie einen Diskus zu der von den Greifen
flankierten Tür. Das Innere der Pastete verteilte sich im ganzen
Raum.
    »Spitze, Torin!« sagte die Neckersche Frau. »Wir
hören mit einer Pastetenschlacht auf! Das wird sie garantiert zu Tode beunruhigen!«
    Torin rieb sich so heftig die Hände, daß ich die Hitze
beinahe fühlen konnte. »Seid ihr bereit? Es ist der Abend
des Semesterabschlußbanketts! Die Schüler kommen
hintereinander herein und schlagen sich die Bäuche voll –
aber der letzte Gang, der Nachtisch, bleibt aus. Okay? Unser kleines
Stück fängt an. Erste Szene, zweite Szene, dritte
Szene… bis zur sechzehnten Szene.

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