Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
Also, in der neuen Version der sechzehnten Szene ist nicht der Kopf des Kindes die
Füllung einer großen Pastete, sondern sein ganzer
Körper ist die Füllung von vielen kleinen! Es wird eine
Milzpastete, eine Herzpastete, eine Leberpastete, eine
Bauchspeicheldrüsenpastete, eine Linke-Lunge-Pastete, ein
Rechte-Lunge-Pastete und ein paar Nierenpasteten geben – so
viele wir eben brauchen!«
    Die Neckersche Frau wandte sich an Jonnie. »Kein Mensch wird
Torin Diffring je vorwerfen können, daß er
Wischiwaschikram schreibt.«
    »Könnt ihr mir folgen? Siebzehnte Szene: Thyestes setzt
sich hin, um seine Pastete zu essen – sagen wir mal, die
Herzpastete. In diesem Moment geht Jonnie hier mit den anderen
Desserts von der Bühne und stellt jedem an der Tafel eins hin.
Kapiert? Wir machen Kharsog und seine Schüler zu Atreus’
restlichen Abendgästen. Wir versetzen sie mitten in die
gottverdammte Szene! Das bezeichnet man als Mitwirkung des
Publikums!«
    »Das bezeichnet man als krank«, sagte die Neckersche
Frau. »Mir gefällt’s«, setzte sie hinzu.
    »Will ich auch hoffen, daß es euch gefällt«,
erklärte Torin. »Sowas haben wir seit den fliegenden
Augäpfeln in unserem Ödipus nicht mehr gehabt!
– Plopp – plopp – plopp. Natürlich werden wir für die Pasteten nur Feigen oder
sowas nehmen. Wir werden kein Kind sezieren.«
    »Kunst besteht nur aus Kompromissen, hm, Torin?« sagte
der Hühnermann.
    Der Regisseur vollführte noch ein paar Kunststücke: Er
hüpfte von einer Holzkiste zur nächsten und sprang dann mit
einem Riesensatz auf die Tafel zurück. Er kam zu mir, nahm sein
Skript wieder an sich und beugte sich auf eine Weise herunter, die
mir sagte, daß ich gleich eine vertrauliche Mitteilung zu
hören bekommen würde. »Wenn Sie’s wagen, Baron
Kharsog was von unserem kleinen Knüller zu erzählen«,
erklärte er mir sanft, »füllen wir die Pasteten mit Ihnen.«
    Torin dachte wahrscheinlich, das würde ihm einen Lacher
einbringen. Aber ich lachte nicht. In diesem Augenblick war ich viel
zu gebannt – gebannt von dem Glauben, daß es
tatsächlich einen Weg geben könnte, eine Vorka-Pandemie zu
verhindern, gebannt von der Möglichkeit, daß Torins
›kleiner Knüller‹ ein Mittel war, Kusk zur Strecke zu
bringen –, um über irgend etwas zu lachen.
     
    Als die Probe vorbei war, erklärte ich Torin in einem Ton,
der zu offensichtlich bemüht war, schurkische Gedanken zu
maskieren, daß ich ein paar Minuten mit Jonnie sprechen
müßte, und zwar allein. Torin war völlig mit seinem
Publikumsmitwirkungskonzept beschäftigt und erhob keine
Einwände, sondern meinte nur, daß sie am Fahrstuhlschacht
auf Jonnie warten würden.
    »Eine Gelegenheit wie diese wird es in unser beider Leben nur
ein einziges Mal geben«, eröffnete ich Jonnie, nachdem die
Jongleure in den zylindrischen Korridor verschwunden waren. Mein
Flüstern war heiser und ängstlich. »Vierzehn kleine
Feigenpasteten, stimmt’s?«
    »Vierzehn«, bestätigte er verdutzt.
    »Zwölf gute für die Schüler, eine weitere gute
für Thyestes… und eine vergiftete für Kusk. Kannst du
das arrangieren, Jonnie?«
    »Vergiftet? Hast du ›vergiftet‹ gesagt? Zum Teufel,
ich bin nicht gerade ein Fan von Kusk, das weißt du, aber
– na ja, wenn man jemand vergiftet, sollte man lieber
eine Menge Gründe dafür haben.«
    »Die Gründe sind über uns.« Ich erzählte
Jonnie von dem Gewächshaus auf dem Dach und den
einundfünfzig Todesbäumen. Ich erklärte ihm, der
Garten sei eine Armee, die im Begriff sei, seelischen Völkermord
zu begehen, ein Waffenarsenal, das auf den kollektiven Verstand
gerichtet sei. »Versuch nicht, mir die Sache auszureden, mein
Freund. Ich denke an all die Väter, deren Töchter Kusks
Früchte noch nicht gegessen haben, und ich tue, was die
sich wünschen würden.«
    Jonnies Bekehrung ging mit lotoskapselhafter Geschwindigkeit und
Endgültigkeit vonstatten. »Torins kleines Melodram hat also
das Potential, eine große Tragödie zu verhindern«,
sann er. »Ich backe diese Pasteten selbst, manipuliere die des
Barons und serviere sie ihm, wenn es so weit ist – da besteht
keine Gefahr, daß was durcheinanderkommt. Wieviel Ahnung hast
du von Toxikologie, Quinjin?«
    »Gar keine.«
    Jonnie schlug sein Skript auf und suchte die alten Versionen der
sechzehnten und siebzehnten Szene heraus. »Einundfünfzig
Bäume, hast du gesagt? Dann muß es da Gifte in Hülle
und Fülle geben. Pestizide. Herbizide.«
    »Ich besorge dir

Weitere Kostenlose Bücher