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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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und
verletzlich aus – erst ein Drittel trug bereits Früchte
–, aber nicht gerade harmlos. Sie waren monströs, verdreht,
obszön.
    Mit einer Heckensichel bewaffnet, schlenderte ein klappriger
Gärtner auf der Suche nach abgestorbenen Ästen durch den
Obstgarten. Sein Körper und sein Gang hatten etwas
Käferartiges, als ob er sich über die Jahre mit den
Schädlingen identifiziert hätte, gegen die er ständig
Krieg führte. Als er Kusk sah, erstarrte er vor Befangenheit,
und ich wußte, daß er es nicht wagen würde, einen
Zweig abzuschneiden, solange wir uns im Treibhaus aufhielten. Das
Möbiusband auf dem Kittel des Gärtners war aus Fiberfolie
gewirkt; die Fäden funkelten in der Morgensonne.
    »Ihre Baumschule ist überaus fruchtbar«, sagte ich,
während wir zwischen den angehenden Zuchtfarmen
dahinschlenderten.
    »Goths Kirche braucht viele Konvertiten«, erklärte
Kusk. »Vor Jahrzehnten habe ich einmal einen Prototyp getestet
– einige Gothlästerer haben das Resultat als
›Vorka-Massaker‹ bezeichnet. Mit diesem Traum hatte ich
einen Haufen Probleme. Er hat die Leute innerlich verändert, das
schon, aber er hat sie nicht zum wahren Glauben bekehrt. Ich habe mir
nicht einmal die Mühe gemacht, den Sämling umzupflanzen.
Dann, nach Jahren der Forschung – die Hamadryade! Der
Durchbruch! Der Erfolg! Aber so fruchtbar sie ist, sie wird uns
niemals genug Früchte liefern. Deshalb der Garten, in dem wir
gerade Spazierengehen.«
    »Haben Sie die alle geschrieben?«
    »Geschrieben« – sein Nicken war bescheiden –
»und die Bücher dann verbrannt. Es gibt nur eine
Möglichkeit, Wissen aus diesen Früchten zu ziehen,
nämlich indem man sie ißt. Was die eigentliche Herstellung
der Samen angeht, so kann ich mit Freude sagen, daß jeder
einzelne Baum hier seine Existenz einem Absolventen des
Lotos-Instituts verdankt. Natürlich werden sich nicht alle diese Träume als wert erweisen, zu einem Hydrasteroiden
verschifft zu werden. Sie müssen bestimmte Prüfungen
ihrer… Überzeugungskraft bestehen.«
    »Überzeugungskraft«, wiederholte ich
stumpfsinnig.
    »Wir haben hier jede Geschichte, jeden Plot, jeden Traum, den
das Herz begehrt«, fuhr Kusk fort. »Lügen für
alle Gelegenheiten. Da rechts kommt zum Beispiel die Lüge vom
Gerechten Krieg. Die Kapsel versetzt Sie in einen der Religionskriege
des terranischen Zeitalters – in die blutige Belagerung einer
Stadt namens Magdeburg. Als nächstes haben wir dann
natürlich die Lüge vom Gerechten Frieden. Und da
drüben zu Ihrer Linken die Lüge vom Liebenden Gott, gefolgt
von der Lüge vom Wohlwollenden Diktator. Schauen Sie jetzt nach
rechts: die Lüge vom Übergeordneten Gemeinwohl und die
Lüge vom Kleineren Übel, die Lüge vom Unschuldigen
Kind, die Lüge vom Heiligen Stand der Ehe, die Lüge vom
Freien Willen.«
    Mittlerweile waren wir am anderen Ende des Obstgartens angekommen,
lehnten uns an einen offenen Schuppen und sahen sicherlich eher wie
zwei Schulfreunde aus, die auf einen Troglobus warteten, als wie zwei
Männer mittleren Alters, die einen Plan ausheckten, die
menschliche Rasse in eine Kultgemeinschaft zu verwandeln. Ich
vermutete, daß die Bretter, aus denen der Schuppen bestand, von
Sämlingen stammten, die bei Kusks Prüfung ihrer
›Überzeugungskraft‹ durchgefallen waren.
    Kusk rief seinen Lakaien herbei. »Horg!«
    Der Gärtner kam eilig herüber. Als er bei uns war,
zappelte er nervös herum, wobei er die Heckensichel andauernd in
den Boden stieß und sie wieder herauszog.
    »Was weißt du über den Mond, Horg?«
    »Heute abend werden Sie hier drin eine Nadel einfädeln
können, so hell wird er am zwölften Tag des
Erntefestes.« Die Stimme des Gärtners paßte zu seinem
Körper; sie war dünn und insektenartig. »Aber Vollmond ist erst morgen abend.«
    »Sag mir, Horg, glaubst du, daß ein Schlingbaum am
besten gedeiht, wenn er bei Vollmond gepflanzt wird?«
    »Nein, Baron Kharsog.«
    »Ich auch nicht. Trotzdem, warum soll man sich nicht an die
Legenden halten? Unsere Sturmernte- Setzlinge können jetzt
ausgebracht werden. Setze sie morgen um Mitternacht.«
    »Wie Sie wünschen«, sagte Horg. Sein Gehorsam
grenzte schon fast an Spott.
    »Das ist Flick Longslapper, der neue Züchter des
Instituts.« Kusk warf mir einen fragenden Blick zu. »Sie sind doch der neue Züchter des Instituts, oder
nicht?«
    »Ich habe mich noch nicht entschieden«, wehrte ich
ab.
    Horg und ich gaben uns die Hand, und meine Handfläche
berührte Schweiß,

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