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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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auch die Möglichkeit, mich mit Urilla
ungestört über die Ermordung seines Herrn zu beraten.
    Und trotzdem schob ich das Thema hinaus, weil ich
befürchtete, sie könnte von unserem Vorhaben so entsetzt
sein oder – noch schlimmer – so verächtlich über
unsere Strategie herziehen, daß ich mir die Sache ausreden
lassen würde. Sie hatte den Eindruck – den ich auch
sorgfältig erzeugt hatte –, daß ich nur
zurückblieb, um mir Jonnies Auftritt in Thyestes anzusehen. Sie wußte nichts von Torins Szene mit
Publikumsmitwirkung, nichts von dem Plan, Kusk so lange mitwirken zu
lassen, bis er tot war.
    »Tut mir leid, daß es hier nicht geklappt hat«,
sagte Urilla. »Vom ersten Moment an, als’ wir sie am
Rosamundesee liegen sahen, war uns beiden klar, daß sie
vielleicht nie wieder gesund werden würde.«
    »Ich hab eine Neuigkeit für dich«, sagte ich, ohne
ihr blasphemisches Gerede zu beachten. »Jonnie will sie
heiraten.«
    Urilla bemerkte, daß Jonnie in der Liebe einen besseren
Geschmack hätte als bei Traumkapseln. »Du auch, wenn
man’s recht bedenkt«, fügte sie hinzu.
    Unser Kuß war kurz, unbeholfen und abschließend.
Danach küßte ich Lilits Zöpfe auf die gleiche
Weise.
    Jetzt war er da, der verwünschte Punkt, von dem aus es kein
Zurück mehr gab. Es war meine Pflicht, die Grenze ohne
nachzudenken zu überschreiten. Ich sagte: »Wenn du jemand
vergiften wolltest, Urilla, was würdest du dazu benutzen?«
Bei der Frage schwankte meine Stimme auf eine Weise, die alle meine
Zweifel offenbarte.
    »Quinny, du hast doch irgendwas Idiotisches vor!«
    »Du hast zwei Möglichkeiten. Du kannst mir eine Antwort
geben, oder du kannst es bleiben lassen.«
    »Ja, Kusk ist ein Irrer, er hat Lilit was Schreckliches
angetan, aber es bringt doch nichts, ihn zu ermorden. Dazu bist du
nicht verpflichtet.«
    »Na schön, dann muß ich halt raten.«
    »Es gibt eine Menge Gifte«, fauchte sie. »Strychnin
zum Beispiel. Und von Belladonna 29 hast du ja wohl auch schon mal
was gehört.«
    »Diesmal bin ich auf Stoffe beschränkt, die es auf
Traumfarmen gibt. Herbizide…«
    »Das kannst du alles vergessen. Du mußt ein Samenkorn
benutzen.«
    »Einen Phrensamen?«
    »Ja. Die sind unverdaulich, und die Wirkung tritt mit
Verzögerung ein.« Urilla, die Psychobiologin. Urilla, die
Hexe. »Du kannst den Schauplatz des Verbrechens verlassen, bevor
sich das Verbrechen ereignet. Aber ich glaube immer noch, daß
du einen Weg eingeschlagen hast, auf dem dir dein Aufenthalt bei den
Lotosschluckern wie eine Sommerfrische am Meer vorkommen
wird.«
    Sie machte sich auf den Weg. Die Tür des mittleren Wagens
merkte, daß sie sich näherte, und öffnete sich wie
eine Irisblende. Urilla stieg ein, ohne auch nur einmal
innezuhalten.
    Noch bevor Urilla Lilit hinlegen konnte, machte sich der schwarze
Zug lautlos und feige davon. Ich blieb auf dem Bahnsteig stehen und
sah zu, wie die Lichter des hinteren Aussichtswagens gleich
Leuchtspurgeschossen davonrasten. Der Sturm, die Dunkelheit und die
Entfernung verschluckten den Zug, und ich wandte mein Herz der
letzten Aufgabe dieser Nacht zu.
     
    Horg war pünktlich, wie ich erwartet hatte. Im gleichen
Moment, als Lilits Chronamulett von 29:59:59 auf 00:00:00 umsprang,
grub sich der Spaten des Gärtners in die Erde des
Gewächshauses.
    Ich hatte mich hinter dem Baum versteckt, den Kusk Schweine
für den Markt genannt hatte. Als ich zur Transplastikmembran
über mir hochschaute, sah ich, daß der Sturm vorbei war.
Das Licht des Vollmonds strömte herab und hüllte die
Äpfel in Bronze.
    Innerhalb von ein paar Minuten war der Mutterboden empfangsbereit.
Der Gärtner legte den Samen hinein: den ›Durchbruch‹
des Instituts, wie Kusk es formuliert hatte, die Sturmernte. Zwei Schaufeln Dünger folgten. Er verschloß das Loch,
sammelte seine Sachen ein und eilte zu dem Holzschuppen, wo Kusk und
ich am Tag zuvor herumgestanden hatten.
    Der Schuppen hätte nicht rationeller organisiert sein
können. Es gab jeweils ein abgeteiltes Fach für Herbizide,
für pilztötende Mittel, für Pestizide, für die
Heckensichel, für die Baumschere und so weiter. Methodisch legte
Horg den Spaten und den Sack mit dem Düngemittel an ihren
jeweiligen Platz. Er war so langsam, daß ich am liebsten laut
losgeschrien hätte. Es war, als ob man darauf wartete, daß
jemand ein Kind bekam.
    Endlich verließ Horg das Gewächshaus. Eine lange Wolke
legte sich vor den Mond.
    Ich trat leise hinter den Schweinen für den Markt

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