Der Kopflohn - Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932
– »Nee, das haben wir nicht. Rote haben wir nicht. So richtige Rote wie in der Stadt und wie in Botzenbach der Ibst, das haben wir hier nicht.«
Auf einmal dachte Kunkel, daß seine Mutter bestimmt noch ihr Gesicht ans Küchenfenster drückte. Er stand vorsichtig auf, um nicht an der Decke anzuschlagen. »Wir müssen morgen weiterreden. Man muß jetzt schlafen.«
Kunkel ging hinüber. Seine Mutter stand wirklich noch am Fenster. Er rief ihr zu: »Nu rechne schon mal aus, denStundenlohn, und dagegen das Petroleum.« Er fuhr seinen Bruder an: »Was stehste immer noch rum?«
Gottlieb rührte sich langsam mit einem schiefen Blick. Frau Kunkel seufzte. Drüben war endlich das Licht ausgegangen.
Kößlin reckte sich im Dunkeln. Es war heiß im Schuppen. Er aber freute sich auf den Tag, auf den Acker, auf zweihundert unbeschnittene Tomatenstauden. Er war froh, alles in allem, daß er aus der Stadt umgeschrieben war. Er hatte gehofft, es könnte vielleicht ein Taschengeld herausspringen. Jedenfalls ließ ihn Kunkel doch wenigstens eine Gärtnerei riechen. Die immerfort steigende Angst der letzten Jahre, im Leben drin zu sein wie in einem Sack, hatte plötzlich aufgehört. Kößlin wäre auch mit dem Teufel gegangen, wenn er ihm erlaubt hätte, in der Hölle Holz zu hacken.
V
Die Leute, die sich nach und nach vor Algeiers Haus versammelt hatten, kamen auf ihre Kosten. Sie hörten Fäuste aufschlagen, Drohungen, Flüche. Sie wollten gar nicht glauben, daß diese schrille, abgeschriene Stimme, die immer neue, vertracktere Flüche hinausschleuderte, dem alten Algeier gehörte. Sie hatten ihn sein ganzes bisheriges Leben nur dann und wann ein paar Worte brummeln hören. In nassen Kleidern und Schuhen, wütend über die kurzatmigen, häufigen Regenstöße, die sie zwangen, in einem fort das Korn zu wenden, hungrig auf Suppe, standen sie im Regen vor Algeiers Haus und horchten. Neben ihnen stand ein großes graulackiertes Warenauto mit der Aufschrift: Kastrizius. Landwirtschaftliche Maschinen. Algeier war vor einer halben Stunde vom Feld heimgeholt worden. Die Leute vor seiner Tür errieten ungefähr den Zusammenhang. Sie konnten den Vorgang auskosten, ohne sich viel mit Erraten plagen zu müssen.
Der Bauer Schüchlin kam rotgequollen vom Feld, auf der andern Seite der Straße. Er erblickte den Auflauf und rief hinüber: »Was is los?« – »Man holt die neue Zentrifuge.«
Schüchlin überquerte die Straße. Er betrachtete das Fenster mit zugepetzten Augen und geblähten Nasenlöchern. Aus entgegengesetzter Richtung kamen der junge Merz und Christian Kunkel. Kunkel redete heftig auf den Merz ein. Sie erblickten die Leute, fragten und stellten sich dazu.
Endlich wurde die Tür aufgemacht. Der Fahrer brachte die Zentrifuge mit vorgedrückten Knien. Er sagte über die Schulter weg: »Sie sind wohl nicht bei Groschen? Was kann ich denn da dafür? Hier ist meine Order. Schluß für mich.«
Er drückte den Algeier mit dem Hinterteil ins Haus. Algeier kam dann heraus, er schrie und rüttelte unsinnig. Dabei verlor er seinen Hut. Einen Augenblick sahen alle seinen kahlen Kopf. Während Algeier seinen Hut langte, packte der Fahrer die Zentrifuge und stellte sie hoch. Algeier richtete sich auf und schrie: »Festhalten! Festhalten!« Der Fahrer hielt mit dem Ellbogen die Wagenklappe zurück. Er drückte mit der Hüfte nach im Anheben. Die Leute sagten nichts und regten sich nicht; die Wagenklappe schlug zu. Algeier starrte sprachlos die Leute an. Er hatte zu schreien aufgehört. Er kehrte langsam in die Tür zurück.
Das Auto war abgefahren, die Leute drückten sich zusammen und blieben stehen. Sie starrten Algeier an, er starrte zurück. Sie hatten ihn noch nicht fertig angesehen. Sein Gesicht veränderte sich, wie sich das Gesicht eines Mannes verändert, der plötzlich merkt, daß er sich in höchster Gefahr befindet, schwerlich zu erretten. Er begriff erst jetzt, daß viele Leute vor seiner Tür standen, und warum. Er erkannte seine Nachbarn, den Schüchlin, den Merz, den Kunkel, die hexische Frau des Neugebauer,die Zähne offen in ihrem trüben Gesicht. Auf einmal kam es Algeier sonderbar vor, daß er hier geboren war und sein ganzes Leben unter diesen Menschen gelebt hatte. Es kam ihm sonderbar vor, daß diese Menschen seinem Sarge folgen sollten. – Er blickte über ihre Köpfe weg, über die Hofmauer des Bastian, über die Ziegeldächer. Von Abend und Regen war der Himmel zweifach grau. Auf einmal kam es ihm sonderbar
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