Der Kopflohn - Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932
zwanzigjährige, in Leipzig zuständige Hans Schulz hat am 3. April daselbst bei einem sogenannten Hungeraufmarsch einen Polizisten durch Messerstich getötet. Der flüchtig gegangene H. S. trug ein blaues Hemd, eine kurze Hose, eineWindjacke und eine Schirmmütze. Für seine Ergreifung oder zu seiner Ergreifung zweckmäßige Angaben ist obige Belohnung ausgesetzt.«
Algeier trat einen Schritt zurück und betrachtete das Bild eingehend. Je schärfer er zusah, desto deutlicher wurde es. Er packte seinen Hut mit beiden Händen und legte den Kopf in den Nacken. Sein fahriger Bart sträubte sich, als ob ein Wind durchbliese. Algeier machte eine Bewegung, um die nächste Tür aufzureißen und zu rufen: Ich hab ihn! Dann aber kam es ihm vor, er müßte vorher mal richtig Atem schöpfen, im Freien. Er ging die Treppe hinunter. Noch immer standen die Menschen auf dem Platz gedrängt, hartnäckig, atemlos. Algeier hatte Angst, er könnte verlieren, was ihm zustand. Vielleicht war es besser, ins Dorf zurückzukehren und seine Entdeckung dem Bauer Merz anzumelden. Der würde die Landjäger holen. Sie würden den Jungen überraschen, binden und durch das ganze Dorf führen. Algeiers Angst wuchs, es könnte jemand dazwischenkommen, der ihn ums Geld brachte. Er geriet ins Nachdenken. Er umkreiste den Platz. Er durchquerte das Stadttor, er schnickte einen Eisenring. Die vorige Woche hatte er den alten Merz gebeten, seine Frau an die Hackmaschine zu lassen, bis seine alte repariert war. Er hatte unter einem Vorwand abgesagt. Konrad Bastian hatte Vergütung verlangt. Algeier hatte nichts übrig für die Roten. Er hatte für niemand was übrig. Sie hatten ihm bis jetzt nichts gebracht. Ihm brachte niemand was. Eins aber war sicher, daß dem alten Merz alles Rote mehr zuwider war als Pest und Cholera, mehr als hunderttausend Kunkels. Er würde sich einen Mordsspaß draus machen, diesen Jungen durch das Dorf Spießruten laufen zu lassen. Wie Algeier zu dem alten Merz gelaufen war, um seine Bitte vorzubringen, war’s Mittagszeit gewesen. Schon durch den Türspalt hatte es nach Speck gerochen, wie zu Weihnachten. Hatte dieser Junge denn keinen Vater, der ihm den Hintern versohlte,weil er auf die Gasse lief und Hunger! krisch? Der alte Merz hatte dem Schäfer Geld gegeben, damit er die Herde auf sein Feld trieb, damit der Dung es fruchtbar machte. Algeier hatte die Anlage hinter sich, er lief über die glatte weiße Straße. Er hatte Angst, es könnte ihn etwas auch um dieses Geld bringen. Seine Frau mochte flennen, seine eigenen Kinder hinter seinem Rücken quengeln. Wenn er zum alten Merz nicht sofort ging, seinen Anspruch anzumelden, dann würde er überhaupt alles für immer bei sich behalten. Im ganzen Dorf war diese Entdeckung nur bei ihm sicher aufgehoben. Andreas Bastian wußte bestimmt gar nichts, der würde ja Krämpfe kriegen. Er, Algeier, würde weder dem Andreas Bastian noch dem Hans Schulz selbst etwas sagen. Der sollte dann endlich in Frieden sein Brot essen und auf dem Feld seines Verwandten arbeiten. Er würde auch dem Pfarrer nichts sagen. Wozu, Gott weiß es ohnedies. Er würde seiner eigenen Frau und seinen Kindern kein Wort sagen. Ein Glück für diesen Jungen, daß grade er das Schild gelesen hat.
Seine Füße waren schon ausgeleiert, aber er war froh, daß er noch eine Stunde Weg vor sich hatte. Er mußte noch viel nachdenken. Als er die schmale Eisenbrücke über dem Kanal betrat, sagte er vor sich hin: »Das würde euch so passen.«
Er wußte selbst nicht genau, wen er mit euch meinte.
III
»Na, Amen«, sagte Breideis. Er stellte das Radio ab. Kunkel stellte es flink wieder an, um die Wetternachrichten zu hören. Sie saßen, acht Mann, in Kunkels Schuppen zusammen. Breideis war im Auto seines Verwandten Heinrich Breideis unterwegs, um die Neueinteilung durchzuführen. Breideis hatte das spitze Kinn und die eng zusammenliegenden Augen der meisten Männer dieserGegend, doch sein junges Gesicht war übermäßig gespannt vor Ehrgeiz. Er hatte sich vorgenommen, einen Aufenthalt einzuschalten, wo es ein Radio gab, um die Papen-Rede abzuhören. Jetzt stand sein Auto vor Kunkels Treibhaus. Er saß auf einer gestrichenen Kiste in dem Schuppen, in dem vor einer Woche Kößlin und Kunkel zusammengehockt hatten.
Kößlin hatte inzwischen aus alten Kisten einen zweiten Geräteschuppen angebaut. Aus dem alten Schuppen hatte er einen Wohnraum gemacht. Er hatte die elektrische Leitung herübergelegt, ein Radio montiert. Er
Weitere Kostenlose Bücher