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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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überschattete in ihrer barocken Pracht und Größe den Universitätsplatz. Die unzähligen, vierflügeligen Fenster schienen den jungen Gelehrten anzustarren wie kalte, gläserne Puppenaugen. Die goldene Uhr auf dem schieferbedeckten Turm, der aus dem schwarzen Hausdach emporragte, zeigte wenige Minuten vor elf. Icherios blickte auf die jungen Menschen, die in das Gebäude hineinströmten. Sollte er von nun an wirklich zu den Studenten gehören?
    Ein Strigoi, eine menschenfressende Bestie, bist du, flüsterte eine gehässige Stimme in seinem Kopf. Er holte tief Luft, verdrängte die düsteren Gedanken und eilte mit gesenktem Haupt in die Universität hinein. Die Schritte der Studenten auf den steinernen Fliesen hallten von den kahlen Wänden wider, deren ehemals weißen Glanz man nur noch zu erahnen vermochte, und füllten den Raum mit einem vielfachen Echo. Ein großes, eisernes Schild prangte an der Wand gegenüber der Eingangstür, das ihm den Weg zu den Verwaltungsräumen im oberen Geschoss wies, in dem ihm eine griesgrämige, bucklige Frau in Empfang nahm. Immerhin waren die Formalitäten schnell und unkompliziert erledigt, sodass Icherios wenige Minuten später zu seiner ersten Vorlesung in Physiologie eilen konnte.
    Das Auditorium befand sich im Untergeschoss und er­innerte an ein verkleinertes Kolosseum, in dem die Studenten als Zuschauer die Sitze füllten, während der schwarz gekleidete Jesuiten-Pater als Gladiator in den Kampf mit dem Verstand seiner Zuhörer trat. Als dieser Icherios ­bemerkte, runzelte er die Stirn, wobei seine ganze Miene Missfallen ausdrückte. »Und Ihr seid?«
    Der junge Gelehrte blieb stehen. Er spürte Dutzende Augenpaare, die sich abschätzend auf ihn richteten. »Icherios Ceihn, Herr.«
    »Sprecht mich mit Professor oder Hochwürden Frissling an.«
    »Verzeiht.«
    »Pünktlichkeit ist eine Tugend in Gottes Augen. Ich erwarte eine fünffache Abschrift der Zeilen achtzehn bis einundzwanzig in Kapitel einundzwanzig des fünften Buches Moses bis morgen.«
    »Aber ich war in der Verwaltung, um mich anzumelden«, wandte der junge Gelehrte ein.
    »Eine Lektion in Gehorsam und Demut steht Euch ebenfalls gut an, will mir scheinen. Fünf Abschriften der Zeilen sechs bis zehn im vierten Kapitel des Jakobus.«
    Icherios ballte seine Hände zu Fäusten. Was für ein selbstgerechter Wicht! Vor Wut und Enttäuschung zitternd wegen dieses unerfreulichen Studienbeginns setzte er sich auf den ersten freien Platz.
    Den Rest der Vorlesung bemühte er sich, dem Vortrag des Jesuiten zu folgen, der Passage um Passage aus Galens Methodi medendi rezitierte. Er hatte es bereits gelesen und wusste, dass neue Studien aus Italien zahlreiche der alten Dogmen widerlegten, sodass seine Gedanken immer wieder abschweiften. Er war sich nicht sicher, ob er Auberlin auf Vallentin ansprechen sollte. Wenn sein Freund tatsächlich für den Ordo Occulto gearbeitet hatte, war es wahrscheinlich, dass der Leiter des Magistratum ihn kannte. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung mit Auberlin zu sprechen. Lag es nur an Freybergs Warnung, oder steckte mehr dahinter?
    Icherios schielte zu seinem Sitznachbarn hinüber: ein großer, schlanker, junger Mann mit grünen Augen und auffallend kupferroten Haaren, die ihm regelrecht zu Berge standen. Er bemerkte Icherios’ Blick und schenkte ihm ein breites, jungenhaftes Lächeln. Dann fuhr er hastig fort, den Vortrag mitzuschreiben. Icherios guckte sich um und stellte fest, dass sämtliche Studenten eifrig mitschrieben und sich zum Teil in Gruppen absprachen. Kam einer nicht mehr mit, setzte der Nächste ein, um ja kein Wort zu verpassen. War er der Einzige, der Galens Werk bereits kannte? Ernüchtert lehnte er sich zurück. Er hatte mit neuen Erkenntnissen und angeregten Diskussionen gerechnet – nicht damit, dass ihm ein engstirniger Jesuit ein veraltetes Buch vortrug.
    Am Ende der Doppelstunde verabschiedete sich der Professor mit den Worten, sich gut auf die morgige Prüfung vorzubereiten. Sogleich erhob sich lautes Gemurmel im Saal. Icherios starrte seinen Sitznachbarn entsetzt an. »Morgen findet ein Examen statt?«
    Der junge Mann strahlte und reichte ihm die Hand. »Ich bin Marthes Ringeldück. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.«
    Icherios lächelte zurück und stellte sich ebenfalls vor.
    »Der olle Frissling liest immer einen Tag vor und am nächsten prüft er uns. Wir müssen alles auswendig lernen.«
    »Gut, dass ich das Buch bereits

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