Der Kraehenturm
Aufzeichnungen zu kopieren. Dann eilten sie zur Domus Wilhelmiana zurück. Dort wiederholte sich das Schauspiel vom Vormittag. Zumeist leierte ein Jesuit gelangweilt Passagen aus Büchern herunter, die die Studenten mit Müh und Not mitschreiben konnten. Dies änderte sich erst in der letzten Stunde bei einer Vorlesung des Professors Crabbé über Questiones medico-legales , Fragen der Rechtsmedizin.
»Der nimmt sich ganz schön wichtig«, raunte ihm Marthes zu, als sie sich setzten.
Trotz der Warnung erlebte Icherios nun die erste interessante Vorlesung. Professor Crabbé hatte ein menschliches Skelett mitgebracht und erklärte nun verschiedene Details, während er immer wieder Fragen an die Studenten stellte.
»Ringeldück, nennen Sie die körpernahen Handwurzelknochen.«
Marthes duckte sich, aber es war zu spät. Alle Augen ruhten auf ihm. Langsam erhob er sich.
» Os scaphoideum , os lunatum , os triquetrum , os pisiforme «, flüsterte Icherios.
Marthes wiederholte die Aufzählung laut, doch seine Worte klangen wie eine zögerliche Frage. Er kämpfte sichtlich mit den lateinischen Begriffen.
»Korrekt, aber in Zukunft erwarte ich, dass Sie die Antwort auch ohne die Hilfe Ihres Nachbarn finden. Wie heißen Sie, junger Mann? Ich kenne Sie noch nicht.«
Icherios erhob sich und stellte sich vor, wobei er sich respektvoll verbeugte.
»Es ehrt Sie, dass Sie Ihrem Kommilitonen helfen wollen, doch er sollte selbst lernen, um seine Prüfungen bestehen zu können.«
»Jawohl, Professor.« Icherios senkte den Kopf und setzte sich wieder.
»Trotzdem danke«, raunte ihm Marthes zu.
Vor dem Vorlesungsgebäude hatten sich die Studenten dicht gedrängt auf der überdachten Treppe versammelt. Der tosende Wind schmetterte den Eisregen, der aus dem tristen, grauen Himmel niederprasselte, auf das Pflaster. Die Schatten der Häuser wurden immer länger, vereinten sich an manchen Stellen zu Teichen aus Dunkelheit, bereit für die Nacht. Marthes Augen strahlten. »Die erste Runde Bier im Neckartänzer geht auf mich!«, rief er in die Runde.
Freudiges Gegröle antwortete ihm. Marthes legte einen Arm um Icherios’ Schulter. Er war beinahe genauso groß wie der junge Gelehrte. »Du musst unbedingt mitkommen. Ich kenne da ein paar süße Mädel, die ich dir gern vorstellen möchte.«
»Aber ich muss …«
»Kein aber! Heute wirst du in das Heidelberger Studentenleben eingeführt!«
Er zog Icherios von den Stufen herunter, und gemeinsam mit einem Dutzend anderer junger Männer schlitterten sie über die glatte Straße. Wann immer einer hinfiel, brach lautes Gelächter aus. Manchmal schnappte sich einer den Fuß eines Unglücklichen und zog ihn einige Meter, bis auch er stürzte und sie gemeinsam weiter rutschten, nur gestoppt von Hauswänden oder Laternenpfählen.
Schließlich kamen sie an einem hoch aufragenden, verlassenen Turm aus rötlichem Sandstein vorbei. Das Gebäude hatte etwas Unheimliches, seine Farbe erinnerte an rostiges Eisen. Die Schatten schienen sich um ihn herum zu verdichten und über das stumpfe Pflaster zu tanzen.
Icherios blieb stehen. »Was ist denn das?«
»Der Hexenturm. Komm lieber weiter, das ist kein Ort zum Verweilen.«
»Der Hexenturm?«
»Hier wurden früher Hexen gefangen gehalten und auf dem Platz davor verbrannt.«
Kein Wunder, dass den Turm eine Aura von Tod und Zerfall umgab, dachte der junge Gelehrte. Im Weitergehen drehte er sich noch einmal um. Die sechs an Torbögen erinnernden Fenster schienen ihm in der Nacht drohend zuzuzwinkern.
Der Neckartänzer befand sich, wie schon der Name verriet, in der Nähe des Flusses, nicht weit von der alten Brücke entfernt. Die Wirtsstube lag im unteren Stock eines großen, zweistöckigen Fachwerkhauses. Das Innere war gemütlich eingerichtet mit Tischen aus hellem Holz, die im Kontrast zu den dunklen, massiven Holzbalken standen, die das Gebäude trugen. Ein langer Tresen lud mit zahlreichen Hockern zum Verweilen ein. Icherios stieß beinahe mit dem Kopf gegen einen der Balken, als er mit seinen Kommilitonen zu einer Eckbank ging. Marthes trug dem Wirt im Vorbeigehen auf, ihnen Bier zu bringen, und kurz darauf kamen zwei hübsche, junge Frauen mit schäumenden Bierkrügen, die sie schwungvoll auf den Tisch knallten. Die kleinere von ihnen, eine niedliche Schwarzhaarige mit herzförmigem Gesicht und hochgesteckten Haaren, aus denen sich einzelne, widerspenstige Locken gelöst hatten, schenkte Icherios ein freches Grinsen. Marthes boxte
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