Der Kraehenturm
gelesen habe«, seufzte Icherios.
»Lesen allein reicht nicht. Wir müssen es Wort für Wort wiedergeben.«
Der junge Gelehrte erbleichte. Er hatte das Buch in Karlsruhe zurückgelassen, da er es als veraltet betrachtete.
»Diesen Gesichtsausdruck kenne ich.« Marthes grinste ihn verschmitzt an. »Wir haben eine Freistunde. Du kannst meine Aufzeichnungen haben.«
»Das wäre meine Rettung. Frissling kann mich jetzt schon nicht leiden.«
Sie gingen gemeinsam nach draußen. Icherios fühlte sich von der ungewohnten Menge an Menschen, die in das Gebäude hinein- und herauseilten, überwältigt und sehnte sich nach einem Moment der Stille und Einsamkeit in seinem Zimmer, um seine Gedanken ordnen zu können.
»Ich wohne direkt nebenan mit einigen anderen Studenten«, erklärte Marthes und führte Icherios zu einem einstöckigen Steinhäuschen. In dessen oberem Stockwerk wohnte der junge Mann zusammen mit zwei höhersemestrigen Studenten. Es war üblich, dass die Fortgeschrittenen den Anfängern halfen und dafür freien Wohnraum erhielten. Unweigerlich fragte Icherios sich, ob es nicht auffällig war, dass er weder in einer der Gemeinschaften lebte noch eine Familie für Zimmer und Bewirtung bezahlte. Er unterdrückte einen erneuten Seufzer. Würde er jemals wirklich zu etwas dazugehören?
Marthes deutete auf einen großen Tisch, dessen beste Zeiten schon lange hinter ihm lagen. Icherios setzte sich auf einen wackligen Stuhl, sodass er aus dem kleinen Fenster auf die Straße blicken konnte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, die schnellen Schrittes ihrem Ziel entgegeneilten. Ihre Hände waren damit beschäftigt, Kapuzen, Hüte und Perücken gegen den stürmischen Wind auf dem Kopf zu halten. Selbst durch die Ritzen im Gemäuer drückte der Sturm die kalte Luft hinein.
Marthes entfachte ein Feuer in einem kleinen Kachelofen.
Icherios versuchte sich auf die heimelige Atmosphäre in der Studentenwohnung einzulassen. In einer Ecke stapelten sich Stelzen, Bälle und allerlei andere Dinge, womit man sich die Zeit vertreiben konnte. Auf dem Tisch lagen aufgeschlagene Bücher, Tintenfässer und Bögen von Papier. Trotz des Chaos herrschte eine überraschende Sauberkeit.
»Bedien dich!«, rief ihm Marthes aus einem Nebenraum zu, während er in einem Kleiderstapel, der auf dem unteren Bett eines Stockbettes lag, wühlte. Die Größe des Zimmers erinnerte an einen Abstellraum und bot gerade genug Platz für das Bett und einen kleinen Tisch mit Waschgelegenheit. »Da sind sie ja!« Marthes hielt triumphierend ein paar graue Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingerspitzen in die Höhe. »Du solltest dir auch welche besorgen. Bei dem Mistwetter werden die Finger sonst zu steif zum Schreiben.« Er deutete erneut auf das Obst. »Nun nimm dir schon. Keine Hemmungen, meine Familie schickt mir jede Woche ein Fresspaket.«
Icherios nahm eine Weintraube und verzog das Gesicht, als der saure Saft in seinen Mund schoss.
»Deine Familie muss sehr reich sein.«
Marthes zuckte mit den Schultern und räumte den Tisch frei. »Deshalb wurde ich auch hierher verdonnert.« Er zog ein paar Blätter aus seiner Mappe. »Das sind meine Aufzeichnungen. Am besten fängst du gleich zu schreiben an. In einer halben Stunde müssen wir wieder los, wenn wir pünktlich zu Professor Hösslen kommen wollen.«
Icherios holte Papier und Tinte hervor und begann mit der langweiligen Aufgabe. »Möchtest du denn nicht studieren?«
»Mein Gehirn ist nicht fürs Lernen geschaffen. Weiber, Spielen und Handel, das sind meine Leidenschaft. Leider habe ich einen älteren Bruder, der das Geschäft erben wird. Deshalb beschloss mein Vater, mich aus meinem Müßiggang zu reißen und mich nach Heidelberg zu schicken, damit aus mir was wird. Mich hat natürlich keiner gefragt.«
Icherios runzelte die Stirn. Jahrelang hatte er von einem Medizinstudium geträumt, und nun lernte er diesen jungen Mann kennen, der sich nichts mehr wünschte, als abhauen zu können. Dabei lebte er Icherios’ Traum.
Marthes griff vier Äpfel und jonglierte sie mit flinken Händen. Sein kupferfarbenes Haar schien in Flammen zu stehen, da gerade ein Lichtstrahl durch die Wolkendecke ins Zimmer drang und sich in seinem Schopf verfing.
»Ohne Ehrgeiz kann man hier dennoch ein vergnügliches Leben führen. Die Weiber sind ganz scharf auf Studenten.«
Trotz der Ablenkung durch Marthes, der ein Kunststück nach dem anderen vorführte, gelang es Icherios, noch rechtzeitig die
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