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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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nicht ausbrach.
    »Es ist bald Mitternacht.« Franz spähte aus einem Fenster. »Wir müssen anfangen. Wie geht es dem Grünschnabel?«
    »Es wird schon gehen.« Der junge Gelehrte stand vorsichtig auf.
    »Vielleicht sollte er zu mir in den Kreis kommen. Da ist er wenigstens etwas geschützt.« Gismara saß in der Mitte des Ritualkreises, umringt von einem Lichtteppich aus kleinen und großen Kerzen, die ein interessantes Muster bildeten.
    »Ich werde auf ihn aufpassen. Wie soll er lernen mit solchen Situationen umzugehen, wenn er sich versteckt?«
    Icherios war sich nicht sicher, ob er diese Lektion lernen wollte. »Was wird geschehen?«
    »Gismara wird einen Gegenzauber sprechen, um den Fluch der Maleficia zu brechen. Manchmal geschieht gar nichts, manches Mal taucht der Geist auf und macht uns das Leben schwer. In jedem Fall ist es wichtig, dass Gismara nicht unterbrochen wird.«
    Icherios nickte. »Ich gehe auf die andere Seite und halte die Augen offen.«
    »Hast du eine Waffe?«
    Icherios schüttelte den Kopf. Franz nahm einen der silbernen Dolche aus Gismaras Tasche. »Du wirst ihn nötig haben.«
    Icherios lief es kalt den Rücken hinunter.
    »Im Namen der alten Götter segne ich diesen Ort«, sang Gismara, während sie sich mit geschlossenen Augen vor- und zurückwiegte. Sie hielt einen Zweig Rosmarin in die Flamme einer Kerze, die zwischen ihren gekreuzten Beinen stand. Schwarzer Rauch stieg auf, als er vom Feuer verzehrt wurde.
    »Sinthgut, Nachtwanderin,
    deine Tochter ruft dich in dieser dunklen Nacht,
    Sinthgut, Nachtwanderin,
    die über mich wacht.
    Alter Zauber aus dem Schoß der Ahnen,
    muss spüren deine Macht.«
    Plötzlich fuhr ein Windstoß durch den Raum, riss Gismaras Hut vom Kopf und ließ ihr langes, rotes Haar im Wind flattern.
    »Das ist nicht gut!«, brüllte Franz.
    Icherios kauerte sich auf dem Boden zusammen. Spinnweben wirbelten durch die Luft und zwangen den jungen Gelehrten, die Hände schützend über das Gesicht zu legen. Unbeirrt setzte Gismara ihren Gesang fort, verbrannte verschiedene Kräuter und rief die Elemente an.
    Der Wind wurde immer stärker, drohte Icherios mit seiner Wucht zu ersticken. Wie von Geisterhand schlugen plötzlich die Fenster auf. Glas zersplitterte, Scherben flogen durch die Luft. Icherios duckte sich, doch es war zu spät. Schmerz durchfuhr ihn, als sich ein Splitter in seinen Oberschenkel bohrte. Er traute sich nicht nachzuschauen, als er das Blut an seinem Bein herunterrinnen spürte. Er durfte nicht ohnmächtig werden! Nicht jetzt.
    Ein lauter Schrei erklang. Icherios ging würgend in die Knie.
    »Sieh dich vor!« Franz rannte auf den jungen Gelehrten zu und warf sich über ihn.
    Icherios fühlte, wie etwas über sie hinwegstrich. Als er die Augen wieder öffnete, erblickte er an der Decke eine grausige Gestalt. Eine fast unsichtbare Frau schwebte in der Luft, deren weite Gewänder sich im Wind aufblähten, während ihre langen, weißen Haare sie wie ein Schleier umwehten. Doch das war nicht das Schreckliche an ihr. Vielmehr erschreckte ihn ihr aufgedunsener Leib und das Gesicht, das einer Wasserleiche glich, deren Augen nur noch schwarze Löcher waren und deren Fleisch an zahlreichen Stellen bis auf die Sehnen und Knochen abgenagt war.
    »Ihr könnt mich nicht besiegen.« Ihre Stimme löste in Iche­rios erneut einen Brechreiz aus.
    »Steh nicht auf«, brüllte ihm Franz ins Ohr, während dieser sich aufrichtete und sein Hemd vom Körper riss. Nein, er riss es nicht herunter, es wurde förmlich zerfetzt, während sein Körper sich streckte, die Haut aufriss, die blutige Unterseite sich nach oben kehrte und dichter dunkelgrauer Pelz zum Vorschein trat. Franz’ Arme wuchsen in die Länge, die Finger dehnten sich, die Nägel verformten sich zu scharfen Krallen. Aus seinem Rücken wuchs ein langer, schuppiger, kahler Schwanz, der aufgeregt hin und her peitschte, während sich sein Gesicht zu einer Schnauze verlängerte, Schnurrhaare herausschossen und das Schwarz seiner Iris auslief, um das Weiß des Auges zu überfluten. Er war ein Werwesen, eine Werratte!
    Franz griff nach den silbernen Nadeln, sprang in die Höhe und rammte sie der Maleficia in den Leib. »Ich habe sie!«, brüllte er gegen das Tosen des Windes und das Kreischen der Hexe an. »Sie ist verwundbar. Bring es zu Ende.«
    Gismara stand auf. Inzwischen hatten sich auch die letzten Klammern aus ihrem Haar gelöst, sodass es ihr unbändig um den Kopf flatterte. Ihre Augen leuchteten in

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