Der Kraehenturm
intensivem Opalblau. »Es funktioniert nicht. Etwas hält sie an diesem Ort. Ihre sterblichen Überreste befinden sich noch hier.«
Franz rang mit der Maleficia. Ihre Nägel zogen tiefe Furchen in sein Fleisch, die sich jedoch in Sekundenschnelle schlossen. Immer wieder schaffte sie es, die Nadeln aus ihrem Körper zu ziehen, aber der Werratte gelang es auch, ständig neue in sie hineinzustoßen. Als er ihr in die leere Augenhöhle stach, ertönte ein erneuter Schrei.
»Du musst sie suchen, Grünschnabel. Ich kann ihr nicht mehr lange standhalten.«
Icherios kämpfte sich gegen den Wind auf die Knie. Wo sollte er suchen? Gismaras Gesicht war schmerzverzerrt. Ihre Wangen eingefallen. Sie würde bald zusammenbrechen. Ihre Stimme stockte schon jetzt.
Was wusste er über die Maleficia? Und dann kam ihm eine Idee: Sie war hingerichtet worden, am Mühlrad! Vielleicht fand er dort etwas. Der junge Gelehrte kämpfte sich gegen den Sturm nach draußen. Blätter flogen um ihn herum. Die Mühle lag in völliger Dunkelheit, der Mond war verschwunden. Immer wieder erklangen die Schreie der Hexe und brachten Icherios’ Magen zum Revoltieren. Endlich erreichte er das Rad. Es ging erstaunlich leicht, die Sperre zu lösen, sodass es langsam anfing, sich in der Strömung zu drehen. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts erkennen. Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen. »Verfluchte Hexen. Kein Wunder, dass man sie hingerichtet hat.«
Und dann sah er es: Ein dickes Tau hing an der Nabe des Rades und führte ins Wasser. Icherios stoppte das Rad, kletterte auf das glitschige, von Algen überwucherte Holz, auf dem sich allerlei Getier befand, und versuchte das Tau zu packen. Immer wieder griff er daneben, bis er das Seil endlich mit der rechten Hand zu fassen bekam. Er zog daran und spürte einen leichten Widerstand. Mit dem Seil in der Hand sprang er auf den Boden und begann es Stück für Stück aus dem Wasser zu ziehen. Plötzlich zerbarst Holz über ihm, und die Maleficia schoss, die Krallen auf das Gesicht des jungen Gelehrten gerichtet, auf ihn zu. Icherios warf sich zu Boden, doch er konnte nicht verhindern, dass sich ihre Finger in seine linke Schulter bohrten. Ihr fauliger Atem schlug ihm entgegen. Trotzdem ließ er das Seil nicht los. Vor Schmerzen ging er in die Knie, versuchte sie abzuschütteln. Doch da wurde sie schon mit einem Ruck von ihm heruntergerissen.
»Hab ich dich, du Miststück!«, brüllte Franz triumphierend, während er die fauchende Hexe umklammert hielt und Nadeln in ihren Körper rammte. Er blutete aus zahlreichen Wunden, die sich nur noch langsam schlossen.
Icherios spürte, wie ihn seine Kraft verließ. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Die Schmerzen fuhren wie glühende Kohlen durch seinen Leib, als er wieder an dem Seil zog. Endlich gelangte etwas an die Oberfläche. Es war eine Leiche! Die Überreste der Hexe! Sie war trotz ihres Alters das genaue Ebenbild des Geistes. »Ich habe sie!«, schrie er gegen den Wind.
»Bring sie zu Gismara!«
Als die Maleficia ihren Körper sah, entfuhr ihr ein Laut, der alles Leid der Welt in sich zu vereinen schien. Icherios schossen die Tränen in die Augen. Die Leiche war leicht, sodass der junge Gelehrte sie trotz seiner Verletzungen zu Gismara schleifen konnte, die kraftlos auf dem Boden kauerte. Ihr Gesicht war eingefallen und blass, aber dennoch zeugte es von unbändiger Entschlossenheit. »Das ist ihr Ende.«
»Sinthgut, Nachtwanderin, Hekate, dunkle Göttin,
vereint Eure Macht und erlöst meine Schwester.«
Mit diesen Worten beugte sich Gismara vor und küsste den verquollenen Mund der Leiche. Icherios wandte sich angewidert ab.
»Mein Kuss soll ihr Frieden schenken,
Meine Liebe sie in Eure Arme legen.«
Abrupt ließ der Wind nach. Das Fleisch löste sich von den sterblichen Überresten, verwandelte sich zu Staub und sammelte sich zwischen den blank polierten Knochen.
Franz sprang durch das Loch in der Wand und gesellte sich schwer atmend zu ihnen. Er blutete aus unzähligen Wunden. »Das wird schon wieder«, beruhigte er Gismara, die trotz ihrer eigenen Schwäche seine Verletzungen untersuchte. Dann sank er zu Boden und schloss die Augen. Gismara fing zu schluchzen an und vergrub ihren Kopf in seinem Schoß. »Sie war schwanger. Wie konnten sie das tun?«
Icherios blickte auf das Skelett und erkannte tatsächlich die winzigen Knochen eines Babys, das eingebettet in den Überresten seiner Mutter lag.
Franz fuhr sanft durch
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