Der Kraehenturm
Gismaras zerzauste Haare. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
Der Mond war ein ganzes Stück gewandert, bevor sie sich ausreichend erholt hatten, um den Rückweg anzutreten. Betroffenes Schweigen beherrschte ihre Heimkehr, und Icherios verspürte nur noch den Wunsch nach seinem Bett und viel Schlaf. Doch als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, wartete ein Brief auf ihn, den jemand durch den Türschlitz geschoben hatte. Icherios erkannte die Schrift auf den ersten Blick: es war Rabans.
Mein lieber Freund,
ich möchte Euch noch einmal mit allem gebührenden Respekt bitten, Euch zur Andreasnacht bei mir einzufinden. Ich verspreche Euch, dass ich alle notwendigen Vorkehrungen treffen werde, damit Euer Geheimnis gewahrt bleibt und Euch kein Leid geschieht.
Ich bin mir der Unstimmigkeiten zwischen uns durchaus bewusst, bitte Euch aber, Euren Groll für diese Nacht zu vergessen.
Ich erwarte Euch in Karlsruhe.
Hochachtungsvoll
Raban von Helmstatt
13
Die rote Witwe
G
29. Octobris, Heidelberg
A m nächsten Morgen schwirrte Gismara der Kopf. Sie hatte eine Hexe getötet! Wie konnte sie das nur mit ihrem Gewissen vereinbaren? Dabei half es ihr nicht zu wissen, dass es für die Maleficia vermutlich eine Erlösung war. Letztendlich trug Gismara die Verantwortung für ihren endgültigen Tod. Eines Tages würde sie dafür brennen müssen – das hatte ihr eine Hexe, eine Saga, prophezeit. Nicht wann es geschehen würde oder wo, nur dass sie diesem Schicksal nicht wird entrinnen können.
Sie öffnete die Augen und genoss den Anblick der wunderschönen Stofftapete mit dem verspielten Blumenmuster über ihrem Kopf. Niemand sonst würde eine Zimmerdecke tapezieren, aber ihr gefiel es, dass sie, sobald sie aufwachte, gleich etwas Schönes im Blick hatte. Sie wohnte nicht im Magistratum. Nicht mehr. Nicht, seit Auberlin ihr diesen furchtbaren Auftrag erteilt hatte. Doch sie hatte ihm einen Schwur geleistet. Nachdem sie ihren Mann getötet hatte – der elendige Bastard schmorte hoffentlich in der Hölle –, wäre sie beinahe hingerichtet worden. Auberlin verhinderte es, und sie war jung und leichtfertig genug, ihm gegenüber ein Treuegelöbnis abzulegen, und eine Hexe brach niemals ein Versprechen.
Sie lebte in einer Dachwohnung nicht weit vom Magistratum entfernt, die aus zwei Zimmern bestand – ihrem kleinen, aber eleganten Schlafzimmer und dem Raum, den sie als Arbeitsplatz nutzte. Trotz ihrer Anstellung beim Ordo Occulto arbeitete sie weiterhin als Hutmacherin. Nicht nur, weil sie diese Arbeit liebte. Es war zudem eine gute Tarnung.
In ihrem Arbeitszimmer drängten sich die Modellköpfe mit fertigen und unvollendeten Hüten. Dennoch herrschte eine penible Ordnung und Sauberkeit.
Gismara stand auf. Ihr weiches Nachthemd wehte um ihren Körper. Nachdem sie Wasser aufgesetzt hatte, räumte sie auf. Sie war gestern sehr unkonzentriert gewesen, sodass Scheren auf den falschen Tischen lagen und Stofffetzen über den Stühlen hingen. Anschließend goss sie etwas von dem heißen Wasser in ihre Waschschüssel, mischte es mit kaltem, bis es eine angenehme Temperatur hatte, und wusch sich. Dann verbrachte sie eine kleine Ewigkeit mit der Auswahl ihrer Garderobe – ein hellblau geblümtes Kleid und ein tiefblauer Hut mit Pfauenfedern.
Zwei Stunden später eilte sie durch schmale Gassen zum Magistratum. Auberlin hatte eine Besprechung angesetzt, und auch wenn es immer wieder gefährlich für sie war, erwartete er ihre Anwesenheit. Sie ging über Umwege und versuchte den Anschein zu erwecken, dass sie sich bei einem Einkaufsbummel vergnügte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, nicht beobachtet zu werden, schloss sie die Türen zum Magistratum auf. »Verfluchter Auberlin mit seiner Angst vor Trollen! «, schimpfte sie leise. Sie bedauerte, dass es ihr durch den gewaltigen Schlüsselbund nicht möglich war, eine der kleinen, eleganten Taschen zu tragen, die die meisten Frauen bevorzugten, sondern dazu gezwungen war, einen großen Beutel aus Kalbsleder mit sich herumzuschleppen.
Schlecht gelaunt stapfte sie in die Küche, dem üblichen Versammlungsort der Mitarbeiter, aus der ihr schon der Duft warmer Pfannkuchen entgegenschlug. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Franz und der Neuzugang warteten bereits. Sie konnte sich nicht entscheiden, was sie von diesem Icherios halten sollte. Auf der einen Seite schien er keine Vorurteile gegen Hexen zu hegen, auf der anderen war er ein schwacher, leicht verführbarer
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