Der Krake
Billy. »Ich konnte nicht erkennen, was der Mann ...« Er schluckte schweigend. Moore räusperte sich. Jenseits eines schweren, verglasten Rahmens war ein ziemlich flaches Etwas zu sehen, eine schieferartige Ebene, graubraunes Gestein, vielleicht einen guten halben Meter im Quadrat. In organischen Linien, in kohlschwarzer Tinte und befleckt mit einem Rot wie von trockenem Blut, aus erhabener Position betrachtet von den Silhouetten menschlicher Gestalten, war dort eine Kreatur von der Form eines Torpedos; eine geheimnisvolle Vereinigung spiralförmiger Peitschenwindungen; ein rundes, schwarzes Auge.
»Das ist aus der Chauvet-Höhle«, sagte Moore. »Es ist mehr als fünfunddreißigtausend Jahre alt.« Das Kohlenauge des Kalmars musterte sie über die Epochen hinweg. Billy wurde schwindelig in Anbetracht dieser voraltertümlichen Darstellung. War sie dazu gedacht, im züngelnden Feuerschein betrachtet zu werden? Frauen und Männer mit Stöcken und geschickten Fingern zeichneten mit Ruß nach, was sie am Meeresufer besucht hatte. Was viele Arme zum Tiefseegruß erhoben hatte, während sie von den Gezeitentümpeln aus zurückwinkten.
»Wir hatten von jeher einen Auftrag«, sagte Moore. »Wir zeigen ihnen Gott.« Er lächelte. »Oder Gottes Nachkommen. Das haben wir stets getan.
Seit Abschluss des Atramentums können wir im Allgemeinen nur Träume anbieten. So, wie wir es bei Ihnen getan haben. Wie Hubert den jungen Gott herbeigerufen hat, wissen wir nicht. Selbst die See will es uns nicht verraten. Und wir haben sie gefragt. Sie haben den Nachwuchs gesehen, Billy. Das Jesusbaby.« Er lächelte ob seiner kleinen Blasphemie. »Das ist es, was Sie bewahrt haben. Architeuthis ist Krakenbrut. Götter sind ovipar. Nicht nur unsere Götter. Alle Götter. Götterlaich ist überall, man muss nur wissen, wo man ihn zu suchen hat.«
»Was ist mit diesem Tattoo?«, fragte Billy.
»Und die Kraken, die das letzte Stadium erreicht haben?« Moore zeigte mit dem Daumen auf das Höhlengemälde. »›Sie schlafen, das ist, was sie tun‹«, zitierte er. »›Mästen sich an riesigen Meereswürmern‹, wie es heißt. Sie werden sich erst erheben, wenn das Ende gekommen ist. Erst am Ende, wenn ›letztes Feuer die Tiefen erhitzt‹« - er zeichnete Anführungszeichen in die Luft - »erst dann sollen sie einmal gesehen werden, tosend sollen sie sich erheben und auf der Oberfläche sterben.«
Billy schaute an ihm vorbei. Er fragte sich, wie die Suche seiner Beinahekollegen vorangehen mochte, ob Baron, Vardy und Collingswood bei der Suche nach ihm, die sie eingeleitet haben mussten, Fortschritte machten. Für einen Augenblick stellte er sich mit erschreckender Klarheit vor, wie Collingswood mit ihrer so ununiformigen Uniform und ihrer Großtuerei sich mit ihren Kollegen den Kopf zerbrach, um ihn zu finden.
»Wir waren da, als alles begann«, sagte Moore. »Und wir sind auch jetzt da. Am Ende. Überall offenbaren sich Götterkinder. Kubodera und Mori. Das waren nur die Ersten. Bilder, Videos, öffentliche Selbstdarstellungen. Architeuthis, Mesonychoteuthis, Unbekannte. Nach all diesen Jahren der Stille erheben sie sich.
Am 28. Februar 2006 erschien der Krake in London.« Er lächelte. »In Melbourne verwahren sie ihren in einem Eisblock. Können Sie sich das vorstellen? Ich komme nicht umhin, mir einen Gott am Stiel vorzustellen. Wussten Sie, dass für Paris einer eingeplant ist, der, wie heißt das gleich, plastiniert?, werden soll? Dieses Verfahren, das dieser sonderbare Deutsche bei Menschen durchführt. So wollen die Gott vorführen.« Dane schüttelte den Kopf. Moore schüttelte den Kopf. »Aber Sie nicht. Sie haben ihn ... richtig behandelt, Billy. Sie haben ihn mit Gewogenheit aufgebahrt.« Befremdend gestelzte Formulierung. »Mit Respekt. Sie haben ihn hinter Glas verwahrt.«
Sein Kalmar war ein Relikt in einem Reliquienbehälter. »Dies ist das Jahr Null des Kraken«, sagte Moore. »Dies ist Anno Teuthis. Wir haben das Ende der Zeiten erreicht. Was meinen Sie, was vor sich geht? Meinen Sie, es ist nur ein verdammter Zufall, dass, nachdem Sie Gott hochgeholt und so behandelt haben, wie Sie ihn behandelt haben, die Welt plötzlich vor dem Ende steht? Warum, denken Sie, sind wir immer wieder gekommen, um ihn zu sehen? Warum, denken Sie, hatten wir jemanden eingeschleust?« Dane senkte den Kopf. »Wir mussten es wissen. Wir mussten beobachten. Wir mussten ihn auch schützen und herausfinden, was geschieht. Wir wussten, irgendetwas
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