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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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wahrgenommen wurde.
    »Und was hat Adler nun angestellt?«, fragte Collingswood. »Um auf eine Flasche gezogen zu werden?«
    »Wer weiß? Wie er wen verärgert hat - davon habe ich so wenig Ahnung wie Sie.«
    »Ich habe bestimmt mehr Ahnung, Meister«, sagte sie. »Besorgen Sie alles Nötige, während ich meinen Scheiß zusammenkrame.«
    Sie ging zu ihrem Spind, um ein altes, mit Symbolen behaftetes Brett, eine Kerze und einen Topf mit widerlichem Talg zu holen. Baron schickte Harris eine E-Mail mit der Bitte, ihm einen Fetzen Haut, einen Knochen und eine Haarsträhne von Adler zu schicken.
    Er konnte nicht einfach fortgehen, aber darüber hinaus gab es keine Beschränkungen. Billy verbrachte Stunden in der versunkenen Bibliothek. Er las sich satt an Tiefseetheologie und Poesie und suchte nach Einzelheiten über die teuthische Apokalypse.
    Ein Schlucken und Scheißen aus dem Dunkel in das Dunkel. Ein schreckliches Beißen. Die Auserwählten wurden wie, was?, wie Hautmilben, winzige Parasiten auf oder in dem mächtigen, heiligen Kalmarkörper, durch den Strudel getragen. Oder auch nicht, je nach spezifischen Gegebenheiten.
    Als Billy endlich einmal seufzend die Brille abnahm und die Tentakelverse in das Regal zurückstellte, erschrak er, als er plötzlich einige der Männer und Frauen erblickte, die bei der Besprechung mit dem Teuthex zugegen gewesen waren. Er erhob sich. Sie unterschieden sich in Alter und Kleidung, nicht aber hinsichtlich ihrer respektvollen Mienen. Er hatte sie weder eintreten noch die Stufen herabsteigen gehört.
    »Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte er.
    »Wir haben eine Frage«, sagte eine Frau in einer Robe, an der ein goldener Tentakeltalisman funkelte. »Sie haben an ihm gearbeitet. War an diesem Kraken irgendetwas ... na ja ... etwas Besonderes?«
    Billy fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Sie meinen, ob er besonders besonders war? Außergewöhnlich für einen Riesenkalmar?« Er schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Woher soll ich das wissen?«, fragte er schulterzuckend. »Sagen Sie es mir. Ich bin keiner von Ihren Propheten.«
    Boah. Da ging etwas durch den Raum, nach diesen Worten. Alle schauten bedröppelt drein. Was ...? Was war ...? Oh.
    Natürlich war er einer ihrer Propheten.
    »Oh, Scheiße«, sagte er, sackte gegen das Regal und schloss die Augen. Darum hatten sie ihm Träume gegeben. Das waren nicht jedermanns Träume. Es waren Träume, die darauf warteten, gelesen zu werden.
    Billy betrachtete die Bücher, Sachthemen neben Visionen. Er versuchte, es Vardy gleichzutun, versuchte, irgendwelche spirituellen Erweckungserlebnisse nachzuempfinden. Er konnte sich vorstellen, dass diese Gläubigen in Cephalopodenbiologen nichts ahnende Heilige vermuteten, deren Visionen ihnen selbst verborgen blieben, was sie nur umso reiner machte, umso unbelasteter von jeglichem Ego. Und er selbst? Billy hatte den Leib Gottes berührt. Hatte ihn sicher verwahrt, ihn präpariert und vor der Zeit geschützt, ihn geleitet in das Anno Teuthis. Und dank Goss und dem Tattoo hatte er auch für Gott gelitten. Das war der Grund, warum die Gemeinde ihn schützte. Er war nicht nur irgendein weiterer Heiliger. Billy war der Bewahrer. Er war Johannes der Täufer in der Welt der Riesenkalmare. Die Scheu, die er bei den Krakenisten wahrnahm, das war Ergebenheit. Es war Ehrfurcht.
    »Ach, um Gottes willen«, sagte er.
    Die Männer und Frauen starrten ihn an. Er las es in ihren Gesichtern, dass sie versuchten, seinen Ausbruch als heiliges Wort auszulegen.
    Jeder Moment, der als Jetzt bezeichnet wird, ist stets voller Möglichkeiten. Zu Zeiten, da es Ahnungen im Übermaß gab, mussten sich die dünnhäutigeren Londoner, die empfänglich dafür waren, bisweilen im Dunkeln verkriechen. Manche neigten zu Übelkeit, hervorgebracht durch eine apokalyptische Übersättigung. Endkrank, so nannten sie es, und im Falle einer Planetenkonjunktion, kalendarischer Unglückszeiten oder der Geburt eines Mondkalbs stöhnten die Erkrankten, kotzten niedergestreckt von den Nebenwirkungen der Offenbarungen, in die sie kein Vertrauen setzten.
    Und gerade jetzt war es ein Auf und Nieder zugleich. Einerseits wurden solche Anfälle seltener. Nachdem sie jahrelang unter den Leiden anderer gelitten hatten, waren die Endkranken nie so frei von all den Plagen gewesen. Andererseits lag das ganz schlicht daran, dass die wuchernde Trunkenheit eines endlosen Universums, die ihrem inneren Ohr von jeher so übel mitgespielt hatte,

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