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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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nicht dankbar, sondern machte ihn im Gegenteil in der Folge zur Zielscheibe ihrer Wut und Enttäuschung. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zwei Jahre später die Familie ebenfalls zu verlassen und seinen eigenen Weg zu gehen. Bei verschiedenen Motorradclubs fand er vorübergehend eine Art neuer Heimat, doch er blieb ein Getriebener. Spätestens als er merkte, dass er dieselben dunklen Seiten in sich trug, für die er seinen Vater verachtet hatte, begann er sich selbst zu hassen.
    Nicht, weil er irgendwo hinwollte, war er in Deutschland bei den Ironhawks gelandet, sondern weil er sein Leben lang nur immer weggewollt hatte. Irgendwann auch von der Frau, die jetzt neben ihm saß – vielleicht, um sie zu schützen. Die Frau, für die er mehr empfand als für irgendeine vor oder nach ihr. Und es waren viele gewesen.
    Und sie weinte.
    Sie weinte seit fast einer Stunde, seit ihr Vater sie auf dem Handy angerufen hatte. Es war kein langes Gespräch, doch aus den Fetzen, die er mitgehört hatte, hatte er sich die Geschichte zusammengebastelt, und im selben Moment war ihm klar gewesen, dass sie nicht stimmte.
    Seit er denken konnte, war Mikael es gewohnt, seine Konflikte mit den Fäusten auszutragen, notfalls auch mit dem Messer, aber ganz sicher Mann gegen Mann. Auf faire Art. Diese Sache war nicht fair. Sie war es von Anfang an nicht gewesen, und sie war es immer weniger. Er hatte Lukas Stegmann als Freund betrachtet, auch wenn es keine enge Freundschaft gewesen war. Man hatte sich am „Palast der Republik“ kennengelernt, das war fast unvermeidlich, denn ganz Stuttgart verbrachte die Sommerabende dort. Obwohl das Chapter sonst unter sich blieb, hatte man eine Ausnahme gemacht, da Ralf stets brauchbare Mechaniktipps auf Lager hatte. Man hatte das eine oder andere Bier zusammen getrunken. Vielleicht waren sie zu sehr mit ihren Maschinen beschäftigt gewesen, bis zu jener Nacht, als sie aus einer übermütigen Laune heraus beschlossen hatten, einen Abstecher zu den Büsnauer Seen zu machen. Eva war natürlich auch dabei. Und Lukas. Es gab ein Gewitter, und man verlor sich für kurze Zeit aus den Augen, ganz in der Nähe des Bärenschlösschens.
    Er, Kalle, hatte es als Letzter erfahren, und unter normalen Umständen hätte er die Sache sofort bereinigt. Mann gegen Mann eben.
    Doch die Umstände waren nicht normal. Er hatte sich ungefähr eine Million Mal gefragt, was Lukas so anders machte, ohne eine Antwort darauf zu finden. Kalles einzige Antwort auf die Sache war, nach Schweden zurückzukehren. Doch nun war er wieder hier.
    Er stand auf und ging im Raum auf und ab. Seine metallbeschlagenen Stiefelabsätze knallten auf den Holzdielen. Sie waren in dieser Nacht die letzten im Klubhaus, alle anderen waren entweder schon zu Hause oder ihren jeweiligen Geschäften nachgegangen, und das war gut so. Es tat weh, die Frau, die man liebte, wegen eines anderen weinen zu sehen, doch das war nicht der Punkt.
    „Er hat es nicht getan!“
    Der Satz kam mit einer derartigen Wucht, dass Evas Tränenstrom unvermittelt abriss und sie verwirrt den Kopf hob. „Woher willst du das wissen?“
    „Warum kommt dein Vater nicht wenigstens selbst, um dir so etwas zu sagen?“
    „Er kann nicht weg, er hat einen Fall.“
    „Na klar.“
    Eva sprang auf. „Ich muss sofort zu Ralf. Fährst du mich bitte in die Stadt zurück?“
    Mikael griff zu Lederjacke und Helm. „Wir fahren in die Stadt, aber nicht zu Ralf.“
    „Was hast du vor?“
    „Ich kann nicht glauben, dass er das getan hat, aber wenn doch, dann will ich wissen, warum!“
    Erschöpft ließ Martin Beier sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Vor ihm lag die Akte Thomas Lamprecht und daneben ein Haufen Papier mit einer Fülle an Indizien, Querverbindungen und Informationen. Die Kollegen hatten gearbeitet in den vergangenen vierundzwanzig Stunden, kein Zweifel, doch nichts davon brachte ihn wirklich weiter. Er selbst war eine halbe Stunde zuvor von einem weiteren Besuch im Marienhospital zurückgekehrt, ebenso ohne Ergebnis. Kein Arzt konnte oder wollte ihm eine Auskunft darüber geben, ob oder wann der bestbewachte Patient des Hauses das Bewusstsein wiedererlangen würde. Theoretisch könne das jederzeit geschehen, hatte es geheißen, und soviel man sehen könne, lägen auch keine irreparablen Schäden vor, doch der Erfahrung nach sei in absehbarer Zeit eher nicht mit einer Veränderung zu rechnen …
    Das Gespräch mit Eva hatte es nicht

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