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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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das Telefon ein, wischte sich mit den Händen übers Gesicht und durchs Haar, blickte in den Spiegel. Sie griff erneut zum Hörer und führte ein weiteres kurzes Gespräch, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.
    „So, mein Schatz, mach jetzt bitte Schluss damit, wir gehen gleich weg.“
    Wenig begeistert von dieser Aussicht, fuhr Nina demonstrativ mit ihrer Bastelarbeit fort. „Wohin denn?“
    „Was hältst du davon, mit Lilly und ihrer Mama ein Eis zu essen?“
    Augenblicklich fiel die Schere auf den Tisch. Judith Günther atmete auf und dankte insgeheim Gott dafür, dass er die Welt der Mütter mit der Erschaffung der Eiscreme gesegnet hatte.
    Sie setzte ihre Tochter bei ihrer besten Freundin ab, die nur wenige Straßen entfernt wohnte. Lillys alleinerziehende Mutter war in der Regel ganz froh, wenn die Mädchen miteinander spielten, sie und Judith wechselten einander mit der Beaufsichtigung ab und sparten sich so teure Babysitter. Und die Kinder fanden es toll.
    Erleichtert stieg Judith Günther in die U14. Sie hatte Nina nicht gesagt, wohin sie fuhr, und sie hätte sie auf keinen Fall mitnehmen können. Es war für sie selbst schon schlimm genug. Sie hasste Krankenhäuser.
    Marienplatz stieg sie aus und nutzte den kurzen Fußweg bis zur Böheimstraße, um in der klaren Winterluft tief durchzuatmen und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Das heißt, sie versuchte es, doch nicht mit sichtbarem Erfolg. Sie ging die Einfahrt entlang, bis zu der großen, gläsernen Eingangstür, dann weiter zum Empfang, von wo aus sie zu irgendeinem weit entfernten Areal in dem riesigen Gebäude geschickt wurde. Die Luft war stickig, und die Gummischuhe der Schwestern quietschten auf dem Kunststoffboden. Endlich, nach einiger Zeit des Suchens, erreichte sie ihr Ziel.
    Am Eingang zur Intensivstation wurde sie mit einer weißen Baumwollschürze und einer Mundschutzmaske ausgestattet. Sie wurde von einer ebenfalls vermummten Schwester einen weiteren Gang entlang zu einem Raum geführt, der mit Geräten vollgestopft war und eine Glasscheibe hatte, durch die ein Pfleger gelangweilt die Monitore überwachte. Ein weiterer Mann, ohne Schürze und Maske, stand hinter der Scheibe und schien sie zu beobachten. Judith Günther hasste es, beobachtet zu werden, doch in diesem Moment nahm sie es kaum wahr. Sie blickte auf das Bett, das zwischen den Apparaten fast verschwand und auf den Menschen, der da vor ihr lag und von dem zwischen den verschiedenen Verbänden, die seinen Körper bedeckten, fast nichts zu sehen war.
    Vorsichtig nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre, so, dass er den Ring spüren konnte, den sie trug. Er sollte wissen, dass sie ihn trug.
    Was auch immer geschehen würde – sie würde den Ring nicht wieder ablegen.
    „Frau Günther? Kann ich Sie einen Moment sprechen?“
    Der Mann hinter der Scheibe hatte Geduld bewiesen. Sie nickte und gab Schürze und Mundschutz einer Schwester, dann folgte sie ihm den Gang entlang, aus dem Intensivbereich hinaus und zu einer der Wartezonen, die mit halbrunden Sitzgruppen ausgestattet waren.
    „Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?“
    Er sieht nicht unsympathisch aus für einen Polizisten, dachte sie. Er war im mittleren Alter, ein kleiner Wohlstandsbauch, das Haar schon etwas licht und deutlich angegraut. Trotzdem war er sicher kein unattraktiver Mann. Bildungsbürgertum schien auf seiner Stirn zu stehen. Er hätte auch ein Lehrer und vielleicht sogar ein Universitätsprofessor sein können.
    Als er die beiden Plastikbecher auf dem Tisch abgestellt hatte, schüttelte er ihr die Hand und ließ sie einen Blick auf seinen Ausweis werfen.
    „Beier, Mordkommission. Wir haben telefoniert.“
    Judith Günther nickte und nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte scheußlich. Sie fixierte den Ring an ihrem Finger. „Er ist noch nicht tot.“
    „Nein. Natürlich nicht. Wir ermitteln in alle Richtungen.“
    „Wer hat das getan?“
    „Ich hatte gehofft, dass Sie mir dazu etwas sagen könnten.“
    Sie schüttelte den Kopf.
    „Er ist vor nicht allzu langer Zeit aus dem …“
    Judith Günther blickte von ihrem Becher auf. „Ach so. Dass er in Stammheim war, macht ihn in den Augen der Behörden vom Opfer zum Täter?“
    „Nein. Natürlich nicht. Ich versuche nur, ein mögliches Motiv für … diese Sache zu finden. Wissen Sie, mit wem er in der letzten Zeit Kontakt hatte?“
    „Nein. Er wollte da raus, verstehen Sie? Er wollte ein neues Leben anfangen. Denken Sie, dass er eine zweite Chance

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