Der Kranich (German Edition)
ihr lag.
„Gustav?“
Sie stellte die Reisetasche ab, schaltete die Deckenbeleuchtung im Flur ein und schob die Tür zum Behandlungsraum auf. Schemenhaft nahm sie die Umrisse eines umgekippten Schachbretts und auf dem Boden verstreuter Figuren wahr. Da sich jedoch niemand im Zimmer befand, schaltete sie kein weiteres Licht ein, sondern begab sich zum Treppenhaus.
„Gustav, bist du da? Ich bin’s, Karin.“
Sie stieg die Treppe hinauf. Die Wohnungstür war nicht verschlossen. Drinnen brannte Licht.
„Gustav?“
Karin Kutscher war vorher noch nie bei Gustav Elvert zu Hause gewesen und sah sich um. Die Wohnung war nicht groß, doch sehr gemütlich und geschmackvoll eingerichtet. Nicht teuer, aber originell. Es gefiel ihr. Die Situation ließ jedoch nur eine kurze Momentaufnahme zu. Der Spiegel im Badezimmer lag in tausend Scherben am Boden, einige Blutflecke führten sie ins Wohnzimmer zurück.
Schließlich bemerkte sie die leicht geöffnete Balkontür und trat nach draußen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah sie ihn. Er kauerte zwischen einem kleinen Tisch, einer Art Campingtisch, und der Balkonbrüstung auf dem Boden. Er trug einen karierten Pyjama, auf dem sich ein paar Blutflecke befanden. Seine Hand, die mit einem Stofftaschentuch umwickelt war, hielt etwas umkrampft, das Karin Kutscher auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte. Vor ihm stand eine halbleere Whiskyflasche.
Vorsichtig näherte sie sich ihm und kniete neben ihm nieder. „Gustav?“
Er wandte ihr einen leeren und ausdruckslosen Blick zu.
„Was ist passiert, Gustav?“
Er reagierte nicht, starrte sie nur an, als sähe er sie zum ersten Mal.
Sanft berührte sie seine Hand. „Zeigst du mir, was du da hast?“
Widerstandslos ließ er es geschehen, dass sie seine verkrampften und blaugefrorenen Finger öffnete. Eine in zwei Hälften zerbrochene Schachfigur befand sich darin.
Es war der schwarze König.
„Was hat das zu bedeuten, Gustav? Bitte, sprich mit mir!“
„Ich hätte nicht verlieren dürfen.“ Er sprach den Satz langsam und tonlos, als müsse er jedes Wort mühsam irgendwo im Universum finden.
„Was? Was hättest du nicht verlieren dürfen?“
„Das Spiel … das Schachspiel. Ich habe … verloren …“.
Es dauerte etwa eine Stunde, bis Karin Kutscher sich ein ungefähres Bild von der Situation machen konnte. Schließlich gelang es ihr, ihn dazu zu bringen, ins Zimmer zurückzukehren, sich einen Bademantel überzuziehen und etwas heißen Tee zu trinken.
Sie prüfte seine Pupillenreflexe und sah sich den Schnitt in seiner Hand an, der jedoch nicht gravierend war.
„Du stehst unter Schock, Gustav. Du solltest dich unter ärztliche Aufsicht begeben. Und du solltest auf keinen Fall trinken.“
„Bitte, Karin, mach es nicht noch schlimmer.“
„Ich kann hierbleiben.“
„Ich danke dir, dass du gekommen bist, aber ich möchte jetzt allein sein. Bitte.“
Sie seufzte. „Du machst doch keine Dummheiten, oder?“
Er schüttelte den Kopf.
„Na gut. Aber komm morgen früh zu mir in die Klinik, dann reden wir. Sagen wir, um zehn? Und versuch, etwas zu schlafen. Wirst du kommen?“
Er nickte.
Mikael Carl Andersson, genannt Kalle, fühlte sich unwohl. Er hatte weinende Frauen noch nie ertragen, und die Situation, in die er völlig unvorbereitet geworfen worden war, drohte ihn zu überfordern.
Schatten einer besiegt geglaubten Vergangenheit tauchten vor ihm auf. Er war zwölf Jahre alt, die weinende Frau am Boden, seine Mutter, der breitschultrige Hüne mit den glühenden Augen, sein Vater. Gegen keinen seiner sechs Söhne hatte Dag Andersson jemals die Hand erhoben, doch ebenso wenig war jemals ein weibliches Wesen seinem Hass entgangen. Warum, das wusste sein ältester Sohn nicht, und es war auch nicht wichtig, als Mikael an einem hässlichen Februartag vor siebzehn Jahren beschloss, der Sache ein Ende zu machen. Er nahm das Fleischmesser aus der Küchenschublade, mit dem seine Mutter sonst den Sonntagsbraten tranchierte. Es war diamantscharf und hatte eine zwanzig Zentimeter lange Klinge. Er stellte sich seinem Vater gegenüber und ließ keinen Zweifel daran, dass er ihn töten würde, falls er in seinem Beisein jemals wieder eine Frau anfasste. Zu seinem Erstaunen schien Dag Andersson ihm das zu glauben, denn er verließ am selben Tag das Haus und kehrte niemals zurück. Tragischerweise zeigte Astrid Andersson sich ihrem Ältesten gegenüber
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