Der Kranich (German Edition)
dass er am Montagmorgen noch völlig benommen war. Doch das spielte keine Rolle. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Noch bevor sich die Belegschaft am jeweiligen Arbeitsplatz eingefunden hatte, klopfte er an die letzte Tür auf dem Flur im dritten Stock. Das dritte Stockwerk war das eleganteste im Haus, der Boden war mit schallisolierendem Teppich ausgelegt. Hier wurden Geschäftskunden empfangen, Strategien ausgearbeitet und Entscheidungen getroffen. Manchmal waren es Entscheidungen, die die Existenz von Menschen betrafen.
Lächelnd blickte Gerhard Weber von seinem Schreibtisch auf, als sein Entwicklungsleiter eintrat. „Kommen Sie rein, Emmerich. Ich hoffe, Sie bringen mir gute Neuigkeiten über Sniper II.“
Karl-Heinz Emmerich schloss die Tür hinter sich, machte ein paar Schritte in den Raum, blieb dann unschlüssig stehen. „Nein … leider nicht … Ich wollte … Es gibt etwas, das Sie wissen müssen.“
Weber legte den Stift zur Seite. Sein Blick wurde ernst. „Okay. Setzen Sie sich.“
Emmerich setzte sich seinem Chef gegenüber und kämpfte verzweifelt gegen den Krampf in seinem Brustkorb. Langsam und stockend, mit zunehmend heiserer Stimme, begann er zu sprechen. Als er geendet hatte, waren seine Kräfte erschöpft, und er hielt sich an der Tischplatte fest.
Gerhard Weber sagte eine ganze Weile gar nichts. Dann stand er auf und nahm eine Flasche und ein Glas aus dem Schrank. „Möchten Sie etwas trinken?“
„Ja … bitte. Vielen Dank.“ Karl-Heinz Emmerich stürzte das Wasser hinunter. Es war kühl und tat gut.
„Warum sind Sie damit nicht gleich zu mir gekommen?“
„Ich konnte nicht. Er hatte mich in der Hand.“
Weber zog die Brauen hoch. „Er hat Sie erpresst? Womit?“
„Ich habe … einen Fehler gemacht. Es ist zwei Jahre her. Ich war in Schwierigkeiten. Es war keine große Summe. Ich hab das inzwischen wieder in Ordnung gebracht.“
„Was für Schwierigkeiten?“
„Meine Mutter. Sie brauchte dringend eine Pflegekraft. Für ein paar Monate. Es geht ihr jetzt … wieder besser.“
„Und deshalb haben Sie sich auf so etwas eingelassen?“
Karl-Heinz Emmerich senkte den Blick. Er war nicht länger fähig, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. Als er antwortete, war seine Stimme leise. „Meine Arbeit hier … bedeutet mir viel. Ich hatte keine Ahnung, wo es hinführen würde, wozu er … fähig war. Erst als ich gesehen habe, was sie mit diesem Mann gemacht haben …“
Wieder entstand eine längere Pause, bis er es schließlich wagte, vorsichtig aufzublicken. Der Konzernchef hatte die Stirn gerunzelt und schien angestrengt nachzudenken. Weitere quälende Minuten verstrichen. Endlich hielt Emmerich es nicht mehr aus und trat die Flucht nach vorn an.
„Was passiert jetzt?“
„Herr Pross wird uns noch heute verlassen. Desgleichen die vier weiteren Mitarbeiter, die Sie mir genannt haben.“
„Sie wollen keine Anzeige erstatten?“
Gerhard Weber schüttelte entschlossen den Kopf. „Das Ganze ist eine höchst bedauerliche Geschichte, aber ich habe die Verantwortung für fast fünfhundert Mitarbeiter. Die meisten von ihnen haben Familie. Also muss ich zuallererst an die Zukunft von Avaleet denken, und die Firma kann es sich auf keinen Fall leisten, in so etwas reingezogen zu werden. In der momentanen Situation schon gar nicht.“
Emmerich kaute auf seiner Unterlippe herum. „Und was ist mit …“
„Avaleet kann es sich auch nicht leisten, seinen fähigsten Programmierer zu verlieren. Herr Pross verlässt uns aus rein persönlichen Gründen. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden.“
Plötzlich empfand Karl-Heinz Emmerich heftigen Schwindel und fürchtete, ohnmächtig zu werden. Trotzdem nahm er all seinen Mut zusammen und blickte seinen Chef an. „Wenn ich … noch etwas sagen dürfte … Marcel Abramovic ist so etwas wie meine rechte Hand … und er hat vier kleine Kinder. Ich bin absolut sicher, dass er nicht wusste …“
„Verstehe. Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber ich denke darüber nach.“
„Danke.“ Mühsam stemmte er seinen tonnenschweren Körper vom Stuhl hoch und wandte sich zur Tür.
„Emmerich …“
Er drehte sich noch einmal um.
„Avaleet macht saubere Spiele. Wir werden uns in einer harten Branche behaupten, ohne uns die Hände schmutzig zu machen. Weder betreiben wir Industriespionage noch beteiligen wir uns an irgendwelchen kriminellen Machenschaften – welcher Art auch immer. Allerdings … wenn nun einer meiner
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