Der Kranich (German Edition)
besser gemacht, doch er hatte es nicht länger hinauszögern können. Er fühlte sich schuldig, wieder einmal, weil er es ihr nicht persönlich gesagt hatte, doch die Kollegen fuhren Doppelschichten, und da konnte er nicht …
Lustlos starrte er auf den Papierberg, der in dieser Nacht noch abzutragen war und drehte den Wecker von sich weg. Ohne Erfolg natürlich, denn auch auf seiner Armbanduhr konnte er sehen, wie die Zeiger unaufhaltsam ihre Runden drehten. Die ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat waren die entscheidenden, und diese waren bereits ohne sichtbare Ergebnisse verstrichen. Sein Blick fiel auf Thomas Lamprechts Handy, das die Spurensicherung herübergeschickt hatte. Verwertbare Fingerabdrücke oder sonstige Spuren befanden sich nicht darauf, da es einiges an Wasser und auch etwas Blut – das Blut des Opfers natürlich – abbekommen hatte, doch es funktionierte immerhin noch. Es war ein billiges prepaid Handy ohne jegliche Zusatzfunktionen, alles was es konnte, war Telefonverbindungen herzustellen. Eigentlich benutzte in einer Zeit der Smartphones kein Mensch mehr ein solches Ding!
Martin Beier drückte sich durch die wenigen Menüpunkte. Mitteilungen: keine Einträge. Adressbuch: keine Einträge. Anruflisten. Jetzt wurde es interessant. Es waren mehrere empfangene Anrufe gespeichert und eine gewählte Nummer. Die gewählte Nummer war 112, der bundesweite Notruf. Die Nummern der meisten empfangenen Anrufe waren unterdrückt – darum würden die Jungs sich kümmern müssen. Eine jedoch war lesbar, und er wählte sie an. Es klingelte. Der Anruf wurde angenommen, doch niemand meldete sich. Martin Beier wartete einen Moment lang ab, dann fragte er: „Mit wem spreche ich, bitte?“
„Mit wem möchten Sie denn sprechen?“
Es war eine Männerstimme. Tief. Osteuropäischer Akzent. Mittleres Alter schätzungsweise.
„Kriminalpolizei. Mit wem spreche ich?“
Gelächter. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Martin Beier griff zum Hörer des Festnetzapparates auf seinem Schreibtisch und drückte eine hausinterne Verbindungstaste. „Ich brauche den Halter eines Handys. Und eine Ortung. Schnell!“
Nicht einmal zehn Minuten später kam der Rückruf des Kollegen. Eine Streife hatte das Handy aus einem Mülleimer in Zuffenhausen gezogen.
Als Martin Beier den Namen des angemeldeten Benutzers hörte, war er vorbereitet, denn er hatte den Notruf bereits recherchiert. Trotzdem brauchte er eine Weile, um die Wendung der Dinge zu verarbeiten.
Diese gänzlich unerwartete Information ließ einiges in einem völlig neuen Licht erscheinen! Sein erster Impuls war, unverzüglich Henk van Buyten anzurufen. Der Wecker, den er vorsichtshalber wieder zu sich drehte, signalisierte ihm jedoch klar und unmissverständlich, dass es dafür bereits deutlich zu spät war. Henk hatte auch ein Recht auf etwas Schlaf. Ungeduldig blätterte Martin Beier in den Papieren, die vor ihm lagen. Es gab eine Verbindung zwischen den Fällen Thomas Lamprecht und Lukas Stegmann, und irgendwo musste ein Hinweis darauf sein.
Kurze Zeit später hatte er ihn gefunden und pfiff leise durch die Zähne. In einer winzigen Randnotiz der Vernehmung des Bewährungshelfers war der Name des Therapeuten vermerkt, bei dem sich Thomas Lamprecht aktuell in Behandlung befand. Allmählich begannen sich aus den verstreuten Puzzleteilen die Umrisse eines Bildes abzuzeichnen. Das war es, was er an seinem Beruf liebte!
Da die Sichtung der restlichen Unterlagen nichts Interessantes mehr ergab und er bis auf die Nachtschicht wieder einmal der letzte im Haus war, beschloss Martin Beier, sich auch ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Blieb die Hoffnung, dass der Psychologe etwas wusste. Gleich morgen früh würde er ihn befragen.
Gerade als er seinen Mantel angezogen hatte und die Lichter löschen wollte, wurde er jedoch von der Pforte angepiept, die ihm mitteilte, dass Besuch für ihn eingetroffen sei. Er seufzte. Das hatte noch gefehlt!
„Schick sie rauf.“
Ihm blieb keine Zeit, sich auf das unverhoffte Zusammentreffen vorzubereiten. Seine Tochter und ihr Begleiter standen im Raum, kaum hatte er den Mantel wieder ausgezogen. Er bot ihnen Platz an und rätselte darüber, was oder wer der Mann in der schwarzen Lederkombi nun eigentlich war. Ihr Ex-Freund? Ihr Freund? Er sah ihn nicht zum ersten Mal, doch er saß ihm zum ersten Mal gegenüber. Und er war überrascht. Aus der Nähe betrachtet schien Mikael Andersson weit weniger das furchteinflößende
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