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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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Mitarbeiter durch irgendwelche Umstände an einen Datensatz gelangt wäre, der das Potenzial hätte, unsere Produkte qualitativ in einen anderen Bereich zu heben, dann würde ihm sicher keiner einen Vorwurf machen, wenn er diese Chance auch nutzte … Das meine ich rein hypothetisch, versteht sich.“
    Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf Emmerichs schneeweißem Gesicht. Er nickte.
    „Gehen Sie an die Arbeit, Emmerich.“
    Um Punkt zehn Uhr traf Gustav Elvert vor der Psychotherapeutischen Klinik ein. Er hatte ein paar Stunden geschlafen und war einigermaßen nüchtern. Das machte die Dinge allerdings keineswegs besser. Vor dem Hintergrund dessen, was Lukas getan hatte, hatte ihn die Nachricht vom Zustand Thomas Lamprechts in geradezu beängstigender Art und Weise unberührt gelassen. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass er inzwischen überhaupt nicht mehr in der Lage war, irgendetwas zu empfinden.
    Die Erleichterung war Karin Kutscher anzusehen, als er ihre Tür öffnete.
    „Komm rein, setz dich. Kaffee?“
    „Ja, danke.“
    Sie stellte zwei Tassen auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. „Wie geht’s dir?“
    Er trank einen Schluck und dachte über die Relevanz und Beantwortbarkeit ihrer Frage nach. „Ich werde aufhören.“
    „Du weißt, dass das nicht der Moment ist, um Lebensentscheidungen zu treffen.“
    Natürlich wusste er es. Er verdiente seinen Lebensunterhalt schließlich damit, Menschen, die sich in Krisensituationen befanden, kluge Ratschläge zu erteilen. Plötzlich erschien ihm das jedoch wie Hohn. Das Mitgefühl in Karins Augen tröstete, doch es änderte nichts an den Tatsachen. „Ich kann nicht mehr, Karin.“
    „Ich weiß, was du empfindest, Gustav. Aber was auch immer der Grund für diese tragische Entwicklung gewesen sein mag, du bist der Letzte, den daran eine Schuld trifft.“
    Er schwieg. Er hätte ihr von Thomas Lamprecht erzählen können, hätte sagen können, dass im Moment alles auf einmal kam, dass er es einfach nicht mehr ertrug, all den Schmerz, all das Leid, seine Ohnmacht angesichts eines Schicksals, das es darauf angelegt zu haben schien, ihn zu Boden zu ringen. Doch er tat es nicht. Es war nicht mehr wichtig.
    „Ich habe selten jemanden gesehen, der seinen Beruf mit einer derartigen Hingabe gelebt hat wie du“, fuhr Karin Kutscher unbeirrt fort. „Du darfst nicht zulassen, dass dir das jetzt zum Verhängnis wird. Menschen brauchen dich!“
    Er hörte, was sie sagte, doch er schwieg noch immer. Der Schmerz wütete wie ein Samurai-Schwert in seinen Eingeweiden.
    „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es etwas mit dem Schachspiel zu tun hatte?“
    „Es war ein Abschied. Das Spiel war seine Art, Abschied zu nehmen. Ich hätte es erkennen müssen. Es war so offensichtlich. Verdammt noch mal, wie konnte ich das nur übersehen? Ich hätte es verhindern müssen. Ich hätte
niemals
zulassen dürfen, dass so etwas geschieht!“
    Karin Kutscher schüttelte den Kopf. „Es gibt Dinge, die nicht in unserer Macht liegen. Du hast getan, was du konntest.“
    Eine Pause entstand, bevor sie fortfuhr.
    „Ich glaube, dass es noch um etwas anderes geht. Du fühlst dich massiv schuldig, und wahrscheinlich liegen die eigentlichen Ursachen dafür wesentlich tiefer. Vielleicht müssen wir in deiner Biografie noch viel weiter zurückgehen, uns den Tod deiner Mutter oder deines Vaters ansehen, aber zunächst möchte ich, dass du mir von dem anderen Fall erzählst.“
    Gustav Elvert blickte auf. „Das wäre Gegenstand einer Therapie, nicht einer Supervision.“
    „Spielt das jetzt eine Rolle?“
    „Meine … Eltern leben noch.“
    Karins Augen weiteten sich erstaunt. „Du hast sie mir gegenüber nie erwähnt, deshalb dachte ich …“
    „Ich weiß. Wir haben keinen Kontakt. Schon seit vielen Jahren nicht.“
    „Warum nicht?“
    „Ich weiß nicht, ob das jetzt …“
    „Bitte, Gustav.“
    „Es war schwierig. Schon immer. Ich bin ein Einzelkind, und ich bin nicht in diese Situation hineingeboren worden … in diese soziale Situation, meine ich. Meine Eltern sind einfache Leute. Arbeiter. Mein Vater fuhr Gabelstapler bei Bosch. Das einzige Buch im Regal war ein Konsalik, und noch nicht mal der war gelesen. Seit ich denken kann, hörte ich nur den einen Satz: ‚Du sollst es mal besser haben.‘ Gymnasium, Studium. Sie arbeiteten sich halb tot, um mir das zu ermöglichen. Ich konnte das nie …“ Elvert brach ab und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten

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