Der Kranich (German Edition)
Wangen. Seltsamerweise schämte er sich nicht für seine Tränen.
„Wo leben sie jetzt?“
„In einem Pflegeheim bei Großaspach. Es ist ein gutes Haus.“
„Das du bezahlst?“
„Es geht nicht um Geld.“
„Nein. Es geht um Zeit, nicht wahr? Sie müssen mindestens siebzig sein.“
„Mein Vater ist fast achtzig. Und er ist schwer an Diabetes erkrankt, aber ich kann jetzt nicht …“
„Natürlich. Wir reden ein anderes Mal darüber.“ Sie zögerte. „Ich kann verstehen, wenn du dich nicht in der Verfassung dafür fühlst, aber trotzdem würde ich gerne noch mit dir über diese andere Sache sprechen. Du hast vor einiger Zeit angedeutet, dass du früher schon einmal einen Klienten … verloren hast. Ich glaube, es ist wichtig.“
Er spürte, wie sich alles in ihm dagegen auflehnte. Das hat absolut nichts miteinander zu tun, wollte er sagen, es war eine völlig andere Situation. Außerdem ist das längst erledigt und abgehakt, ich habe es verarbeitet und damit abgeschlossen. Doch er wusste, dass das eine Lüge war, und instinktiv spürte er, dass sie recht hatte. Er trank einen Schluck Kaffee und sah Karin Kutscher in die Augen. Dann holte er tief Luft.
„Es war eine Klientin“, begann er. „Ihr Name war Laura …“
Henk van Buyten runzelte die Stirn. Die Neuigkeiten, mit denen sein Kollege ihn am Morgen überrascht hatte, waren in der Tat bemerkenswert. Die Verbindung zwischen den Fällen Lamprecht und Stegmann stellte seine Überzeugung, es handle sich um einen zwar bedauerlichen aber letztlich unspektakulären Suizid, unvermittelt infrage. Dazu kam die Tatsache, dass es noch immer keine Spur von einer Leiche gab.
„Und auch der Computer ist nach wie vor unauffindbar“, stellte Martin Beier fest, der mit seiner unvermeidlichen Tasse Kaffee im Türrahmen stand.
„Sollst du das nicht lassen mit dem Kaffee?“
„Doch. Er war ein Nerd. Wo ist der verdammte Computer?“
„Das muss nichts heißen. Er kann ihn sonstwo entsorgt haben. Hast du schon mal was von erweitertem Selbstmord gehört? Was sagt der Psychologe?“
„Der ist immer noch ziemlich mitgenommen. Ist kaum ansprechbar. Er hat nur bestätigt, dass beide Klienten in seiner Praxis waren. Seines Wissens hatten sie aber keinerlei Kontakt miteinander.“
„Nun, in diesem Punkt irrt er sich offensichtlich. Wir müssen den Kerl finden, den du an der Strippe hattest. Wie sieht’s mit Fingerabdrücken aus?“
„Nur die von Lukas. Er hat Handschuhe benutzt.“
„Klingt nach Profis.“
Martin Beier seufzte. „Ja. Und genau das gefällt mir nicht.“
Henk van Buyten blätterte in der Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, während Martin Beier schweigend seinen Kaffee trank. „Also müssen wir jetzt auch Mord in Erwägung ziehen. Damit wäre der Fall wieder bei dir.“
„Ich will es noch nicht an die große Glocke hängen. Nicht bevor wir mehr haben.“
„In Ordnung. Aber wo liegt deiner Meinung nach das Motiv? Du hast gesagt, er war nicht der Typ, der sich in irgendwas verstrickt. Und vor allem: Wozu dieser Aufwand? Man hätte ihn viel unauffälliger verschwinden lassen können.“
„Ich weiß.“ Bekümmert leerte Martin Beier seinen Becher und warf ihn in den randvollen Papierkorb. „Macht hier eigentlich keiner sauber?“
„Die Putzfrau ist krank. Martin …“
„Ja?“
„Ich sag’s nicht gerne, aber solange wir keine Leiche haben, müssen wir noch eine dritte Möglichkeit im Auge behalten.“
Krampfhaft versuchte Martin Beier, sich an die Vermisstenstatistik zu erinnern. Circa hunderttausend Vermisste in Deutschland jährlich, von denen bis auf sechstausend alle nach relativ kurzer Zeit wieder auftauchten. Wie viele von diesen sechstausend hatten sich einfach abgesetzt, weil sie die Schnauze voll hatten, und irgendwo anders neu angefangen? Ziemlich viele jedenfalls! Er begegnete dem forschenden Blick seines Kollegen.
„Du bist derjenige, der ihn gekannt hat – traust du ihm das zu?“
„Gekannt ist eigentlich zu viel gesagt. Ich bin ihm nur einmal begegnet. Er hat einen reifen und reflektierten Eindruck auf mich gemacht. Aber wer kann schon sagen, was in diesen jungen Wirrköpfen tatsächlich vorgeht? Trotzdem halte ich es nicht für wahrscheinlich. Wovor hätte er weglaufen sollen? Er hatte keinen festen Job, keine Familie, keine Kinder … außerdem … war er irgendwie nicht der Typ für so etwas.“ Leise fügte er hinzu: „Eher schon der, der sich umbringt … Wie auch immer. Ich fahre jetzt ins
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