Der Kranich (German Edition)
deine fachliche Urteilskraft beeinträchtigt. Ich verfolge die Intelligenz-Diskussion seit vielen Jahren – aus psychologischen Gründen. Glaub mir, selbst wenn dein Klient Einstein persönlich wäre, könnte er das A.I.-Problem nicht lösen!“
„Warum nicht?“
„Weil sich die Fachwelt heute absolut einig darüber ist, dass es auf der technischen Ebene nicht zu lösen
ist
. Nicht losgelöst von biochemischen Prozessen. Prozessen, die
Leben
bedeuten.“
„Es scheint aber immer noch die Gegenposition zu geben, die den mechanistischen Ansatz verfolgt und sich auf Douglas Hofstadter beruft …“
„Die Anhänger der sogenannten ‚harten A.I.‘, richtig. Wir wissen doch beide gut genug, dass es in der Wissenschaft immer unterschiedliche Ansätze und auch Kontroversen gibt. Ganz sicher ist dieser Diskurs noch nicht beendet. Ich persönlich bin allerdings eine überzeugte Anhängerin der Santiago-Theorie lebender Systeme, die Humberto Maturana und Francisco Varela Ende der achtziger Jahre formuliert haben. Danach hätte Hofstadter insofern recht gehabt, als Autoreferenzialität tatsächlich der entscheidende Faktor bei der Emergenz von Bewusstsein ist – aber er ist eben an strukturelle Veränderungen geknüpft. Die korrekte Bezeichnung ist in diesem Fall Autopoiese. Kognition ist unabdingbare Voraussetzung für jede Art von Intelligenz, und die ist nun mal untrennbar an den Prozess des Lebens gekoppelt – nämlich die Fähigkeit eines Systems,
strukturell
mit seiner Umgebung zu interagieren. Eine Fähigkeit, die ‚Hardware‘ aus offensichtlichen Gründen niemals haben kann, ganz egal, wie ausgeklügelt die Software auch sein mag!“
Eine Pause entstand, dann fuhr Karin Kutscher nachdenklich fort: „Nein, Gustav, der Paradigmenwechsel von einer mechanistischen hin zu einer systemischen, ökologischen Weltsicht, der sich in den achtziger Jahren anbahnte, ist heute weitgehend vollzogen. Aber ein anderer Aspekt scheint mir wesentlich zu sein: Die Tatsache, dass dein zweifellos ausnahmebegabter Klient diese Entwicklung negiert, scheint mir einzig und allein aus seiner Symptomatik heraus erklärbar. Ich denke, diese Implikation ist es, worauf du dein Augenmerk richten solltest. Wenn du dich in einen ausufernden wissenschaftlichen Dialog verwickeln lässt, der weit jenseits deines Fachgebietes liegt, dann leistest du wahrscheinlich nur einer subtilen Form der Abwehr Vorschub.“
Elvert schwieg. Und was ist, fragte er sich, wenn der aktuelle fachliche Mainstream sich ein weiteres Mal irrt?
Als Ralf die Stufen hinaufstieg, war er so mit seinem iPhone beschäftigt, dass er die aufregende Rothaarige übersah und beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. Er schenkte ihr sein galantestes Lächeln und bückte sich rasch, um die Zeitschriften aufzuheben, die ihr vom Arm gerutscht waren. Neugierig überflog er die Titel: Vogue, Elle, und – er musste ein zweites Mal hinsehen – eine Ausgabe des Playboy. Er gab ihr die Zeitschriften zurück und musterte das Mädchen dabei noch eine Spur intensiver. Sie bedankte sich lächelnd, ihre grünen Augen blitzten spitzbübisch auf. Atemlos starrte Ralf ihr nach, während der Klang ihrer hohen Stiefelabsätze im Treppenhaus verhallte.
Noch immer atemlos schloss er Lukes Wohnungstür hinter sich. „Also diese Mieze vom Vierten ist wirklich … wow!“
Unbeeindruckt blickte Lukas vom Computer auf. „Lass die Finger von ihr, Buddy.“
Ralf machte es sich im Sessel bequem und hing seinem kurzen Tagtraum nach. „Hey, seit wann mischst du dich in meine Liebesangelegenheiten ein?“
Lukas lachte. „Würde ich niemals tun, aber eine Liebesangelegenheit ist das sicher nicht.“
„Und woher willst du wissen, dass es keine werden kann, hm?“
„Nimm dir was zu trinken und relax, okay. Ich sag’s dir wirklich nicht gerne, aber die Dame ist ein Profi, und ich glaube nicht, dass du sie dir leisten kannst.“
Einen Augenblick war Ralf sprachlos, was nicht oft vorkam, dann stand er auf, ging in die Küche, kam mit einer Club-Mate zurück und nahm einen großen Schluck. „Du meine Güte“, rief er in gespielter Verzweiflung, „wo bin ich nur hingeraten? Dealer, Hacker, Huren! Bist du sicher, dass euer Haus nicht vom Verfassungsschutz überwacht wird?“
Halb scherzend, halb ernst entgegnete Lukas: „Seit ein paar Tagen bin ich’s nicht mehr.“
Ralf horchte auf und setzte die Limo ab. „Was soll das heißen?“
„Nicht so wichtig … vergiss es.“
„Nein, nein – das
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