Der Kranich (German Edition)
Pross.
„Was willst du?“
Mario Pross ließ sich auf den Sessel vor einem der Arbeitsplätze fallen, als sei plötzlich jede Kraft aus seinem Körper gewichen. „Ich brauche deine Hilfe.“
Schweigend blickten sich die beiden ungleichen Männer eine Weile an. Pross, groß und kräftig, nach wie vor irgendwie amerikanisch, für einen bestimmten Geschmack vielleicht sogar gutaussehend. Emmerich deutlich älter, mit dem Charisma eines Zeitungsausträgers. Deutsch.
Schließlich fuhr Mario Pross fort: „Wie weit seid ihr mit Sniper II?“
Ein bitteres Lachen war die Antwort. „Willst du das wirklich wissen? Mit dieser Ansammlung von Hohlköpfen hier haben wir eine gute Chance auf eine Markteinführung Ende des Jahrhunderts.“
„Ach ja? Und was ist mit ‚eine völlig neue Generation von Avataren, auf Augenhöhe mit Valve‘?“
„Man muss ihnen ab und zu was hinwerfen, damit sie ruhig bleiben. Gerade du solltest das wissen.“
„Wir brauchen ein Hit-Spiel, sonst sind wir geliefert. Der Vorstand kann geschlossen den Hut nehmen, und ich wandere höchstwahrscheinlich in den Knast.“
„Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Aber Sniper I ist gut. Das Beste, was wir bisher gemacht haben! Ich dachte, die Freigabe stünde kurz bevor?“
„Dachte ich auch. Deshalb hab ich fest daran geglaubt, wir müssten nur eine kurze Durststrecke überbrücken. Aber vorhin habe ich mit einer alten Freundin bei der BPjM gesprochen. Ich musste sie ganz schön bearbeiten, damit sie auspackt, aber schließlich hat sie’s doch getan.“
„Und?“
„Winnenden.“
„Verstehe.“
„Es scheint, als hätte die Landesregierung interveniert. Das war zu befürchten. Spiele von der Härte der Sniper-Reihe haben im Augenblick kaum eine Chance. Außerdem droht der Einzelspielermodus zugunsten der Multiplayer ins Abseits zu geraten. Von den Social Games ganz zu schweigen! Man ist dabei, sich eine Generation von FarmVille-Hobbygärtnern heranzuzüchten. Matsch in der Birne – aber harmlos.“
Dem Ernst der Situation zum Trotz musste Karl-Heinz Emmerich kurz lächeln, doch im Halbdunkel konnte Mario Pross es nicht sehen.
„Der Modus ist nicht das Problem“, entgegnete Emmerich langsam, „aber inhaltlich haben wir uns nun mal festgelegt. Wenn sich die Stimmung nicht grundlegend ändert, wird Sniper II aller Wahrscheinlichkeit nach dasselbe Schicksal blühen wie seinem Vorgänger – selbst wenn wir es zur Produktreife führen könnten, was ich stark bezweifle. Es sei denn, wir machen große Abstriche bei der Qualität.“
Mario Pross erhob sich, ging auf ihn zu und stützte sich auf seinem Tisch ab. „Das ist genau das, was du nicht tun sollst.“
Emmerich blickte den Kollegen verständnislos an.
„Das Niveau der künstlichen Intelligenz der Nichtspielercharaktere ist im Einzelspielermodus
das
ausschlaggebende Qualitätskriterium!“, fuhr Pross mit Nachdruck fort. „Deshalb sehe ich eine letzte Chance. Wir müssen es schaffen, die Avatare auf einen nie dagewesenen Level zu heben. Dann wäre ein Verbot politisch nicht mehr durchsetzbar.“
„Du weißt, dass ich genau daran Tag und Nacht arbeite, aber ich habe einfach nicht die Leute dafür. Ich bräuchte mindestens einen fähigen Game Designer, einen Level-Designer, einen Programmierer – und Informatiker, die auf diesem Niveau arbeiten, kann Avaleet beim momentanen Cashflow keinesfalls bezahlen.“
Mario Pross knetete seine Unterlippe. „Okay. Dann müssen wir eben unorthodoxe Wege gehen. So schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Kann ich auf dich zählen?“
„Was hast du denn vor?“
„Weißt du, wie amerikanische Headhunter vorgehen? Sie suchen die Leute, die sie brauchen, da, wo sie sind. Auf dem Fußballplatz, in der Diskothek, auf der Straße. Und warum tun sie das? Weil sie wissen, dass die wirklich spannenden Leute, die, die was drauf haben, nicht mit der Bewerbungsmappe unterm Arm durch die Tür spaziert kommen. Man muss schon seinen Arsch hochkriegen und sie suchen.“
Emmerich schüttelte verständnislos den Kopf.
„Du brauchst Leute, die was von kreativer Computerarbeit verstehen, richtig? Wo solltest du die folglich suchen?“
Langsam schien Karl-Heinz Emmerich zu dämmern, wo der Hase lang lief. „Soll ich jetzt vielleicht Hacker-Foren durchstöbern?“
„Auch, aber nicht nur. Wir suchen innovatives Material und Leute, die es bringen können. Wir suchen überall im Netz. Alle angesagten Plattformen – Facebook, Twitter, Blogs – und die
Weitere Kostenlose Bücher