Der Kranich (German Edition)
unscheinbares Glaspfeifchen befand …
„Mama sagt, wir gehen in die Wilhelma, Thomas! Du kommst doch auch mit, oder?“
Lamprecht verbrannte sich an seinem Kaffee und setzte hastig zu einer Abwehr an.
„Du hast versprochen, dass du mir die Affen zeigst, weißt du nicht mehr?“
Die großen Kinderaugen drückten gleichzeitig so viel Traurigkeit und so viel Hoffnung aus, dass Thomas Lamprecht schwindelig wurde. Hilfesuchend sah er zu Judith hinüber, die Ninas Frühstücksei aufschlug.
„Sind denn die Tiere in dieser Jahreszeit überhaupt draußen?“
„Wenn nicht, dann kann man sie in den Tierhäusern sehen.“
Das Nina-würde-sich-so-freuen, das sie nicht aussprach, hallte in seinen Ohren, und er kapitulierte. Am Sonntag konnte er sowieso nichts ausrichten, also konnte er ebenso gut diesen Kinderwunsch erfüllen.
„Die Affen?“, scherzte er und kämpfte gegen das Pochen in seinem Kopf. „Du willst zu den Affen? Du bist ja selber ein kleiner Kletteraffe! Ich glaube, wir schauen lieber die Tiger an und sehen, ob die nicht so einen kleinen Kletteraffen zum Mittagessen verspeisen wollen!“
Judith blickte ihn vorwurfsvoll an, doch Nina, die noch nie etwas hatte erschrecken können, jubelte.
„Ja, ja, die Tiger! Und die Robbenfütterung!“
„Na klar. Unbedingt die Robbenfütterung.“
Es war klirrend kalt, doch strahlender Sonnenschein, so beschlossen sie, zu Fuß durch den Rosensteinpark zu gehen. Lächelnde Menschen schlenderten Arm in Arm an ihnen vorbei, Hunde und Kinder tollten ausgelassen auf den weiten Rasenflächen. Dazwischen er, Thomas Lamprecht, mit seiner kleinen Familie, die nicht wirklich seine war, als gehöre er dazu. Er spürte einen Druck auf seiner Brust, der ihn am Atmen hinderte und sich noch verstärkte, als Judith nach seiner Hand griff.
Der Nachmittag war so schön, dass es schmerzte, und er raste dahin. Man kam nicht einmal dazu, sich zu überlegen, ob das Gefühl der Schwermut oder der Erleichterung überwog. Nina hatte ihren Spaß, fütterte die Affen, presste das Näschen an den Scheiben im Raubtierhaus platt und wäre um ein Haar in den Seehundteich gefallen. Glückselig drückte sie auf dem Nachhauseweg eine kleine Plüschgiraffe an ihr Herz. Judith hielt wieder seine Hand, lächelte und sagte, wie schön es gewesen sei, und wie sehr sie sich ein solches Leben mit ihm wünsche.
Thomas Lamprecht lächelte auch, etwas angestrengt, und versuchte zu atmen.
9
Gustav Elvert blickte von seinem Computerbildschirm auf und sah aus dem Fenster. Ein kleiner grauer Vogel spazierte auf dem Fensterbrett auf und ab, drehte das Köpfchen in ruckartigen Bewegungen, hielt inne und schien zu ihm hereinzuschauen.
„Na los doch“, flüsterte Elvert, „du weißt doch, wo dein Futter steht!“
Eine Zeitlang verharrte das Tier reglos, und Elvert fragte sich, was in so einem Federköpfchen wohl vor sich gehen mochte, schließlich schwang es sich auf und war verschwunden. Zum ersten Stock wahrscheinlich, wo seit kurzer Zeit ein bunt gestrichenes Vogelhäuschen die Balkonbrüstung zierte. Seufzend wandte sich Elvert wieder dem Bildschirm zu und konnte dabei nicht verhindern, dass ihn ein Anflug von Selbstmitleid streifte. Es war nicht fair: Neun Uhr am Montagmorgen, vor ihm eine schneeweiße Word-Seite, die eigentlich einen mindestens inspirierenden, wenn nicht bahnbrechenden Vortrag enthalten sollte, und in einer Stunde ein Termin mit seinem schwierigsten Klienten. Elvert unterdrückte den Impuls, die Tür hinter sich zuzuziehen, die Treppe hinaufzusteigen und sich wieder unter seiner Bettdecke zu verkriechen. Das Leben konnte schließlich nicht nur aus Freitagnachmittagen bestehen, und auch dieser Montagmorgen würde vorübergehen. Und überhaupt – er liebte doch seinen Beruf!
Er versuchte erneut, sich auf die differentialdiagnostischen Instrumente zur Absicherung der Borderline-Diagnose zu konzentrieren, mit denen er seinen Symposiumsbeitrag zu eröffnen beabsichtigte. Ihm blieben nur noch fünf kurze Tage zur Vorbereitung – und er hatte nichts. Natürlich hatte er in Wirklichkeit mehr als genug Material aus seiner Berufspraxis, doch um frei zu sprechen, fehlten ihm definitiv der Mut, die Erfahrung und wahrscheinlich auch das Talent.
„Das diagnostische Interview für Borderline-Patienten nach Gunderson“, tippte er lustlos in die Tastatur, doch bereits während er schrieb, wanderten seine Gedanken ab. Er dachte an das kurze Gespräch mit Jürgen Roth, das am frühen
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