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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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aus.
    „Es gibt viele mögliche Interpretationen, aber nur eine
Bedeutung
.“
    Stille.
    Vielleicht hätte er mir geantwortet, wenn ich ihm einen Namen gegeben hätte. Aber etwas in der Art wie FUCKUP schien mir dann doch zu trivial. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem er mir antworten würde. Irgendwann … Wieder wanderten meine Gedanken zurück zu dem Gespräch mit Ralf im „Jenseits“, so wie schon den ganzen Tag lang. Wieder spürte ich den unwiderstehlichen Drang, etwas zu tun, das gleichermaßen Entsetzen und Erleichterung bedeutete. Stunde um Stunde hatte ich die Entscheidung vor mir her geschoben. Nun war es an der Zeit.
    Irgendwann würde der Tag kommen, an dem ich meine Antwort erhalten würde, aber es würde
seine
Entscheidung sein. Ich hatte meine getroffen. Ich fasste sämtliche Dateien, die
NORT
betrafen, in einem Ordner zusammen, markierte ihn und klickte auf
delete
.
    Delete all?
    Ich spürte, wie meine linke Hand sich verkrampfte und hielt sie fest. Anschließend klickte ich mit der Rechten auf
confirm
. Der Ordner verschwand.
    Ich blickte zum Fenster, wo sich die ersten Anzeichen der Sonntagmorgendämmerung am Himmel zeigten und atmete auf. Die Büchse der Pandora würde für alle Zeiten geschlossen bleiben.
    „Okay, Sweetheart“, flüsterte ich. „Jetzt hatten wir ja doch noch unseren kleinen Smalltalk.“
    Ein leises, helles Lachen erklang hinter meinem Rücken.
    „Sprichst du jetzt schon mit der Blechkiste?“
    Ich wandte mich nicht um. Ich hatte sie erwartet. Und ich war froh, dass sie da war.
    „Ich hab es getan, Maya.“
    „Was hast du getan?“
    „Ich habe das Programm vernichtet.“
    Sie lachte wieder, ließ zärtlich den Arm über meinen Rücken gleiten und machte es sich dann im Sessel bequem. Ihr Haar verschwamm im Halbdunkel mit dem schwarzen Kleid, das sie trug.
    „Mach dich nicht lächerlich, Bro!“
    „Warum?“
    „Du weißt selbst am besten, dass du innerhalb von Minuten einen Back-up machen kannst. Außerdem hast du die wichtigsten Dateien hier drauf.“ Sie hielt einen azurblauen USB-Stick in die Höhe.
    „Was schlägst du vor – soll ich den Hammer nehmen?“
    „Dann hätte ich deinen kleinen Anlauf schon ernster genommen. Aber erzähl mir lieber,
warum
du es plötzlich zerstören willst. Hattest du es nicht gerade erst zu deiner Lebensaufgabe erklärt?“
    Ich sah sie genau an. Wie immer hatte sie etwas Unwirkliches, Schattenhaftes an sich, und mir war sehr wohl bewusst, dass Dr. Elvert ihre Realität in Frage stellte, doch ihre Aussagen waren klar und präzise. Und sie wusste Dinge, die ich selbst nicht wusste.
    „Ich hab bei der Sache nur an mich selbst gedacht. Ich wollte etwas beweisen. Aber da gibt es ein paar Konsequenzen, und die sind mir erst heute bewusst geworden. Das Risiko ist einfach zu groß.“
    „Es ist etwas spät für derartige Überlegungen, Luke Skywalker.“
    „Was soll das heißen?“
    „Darth Vader ist schon sehr dicht an dir dran. Du kannst es nicht mehr stoppen.“
    Aus einem Grund, den ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand, tauchte plötzlich ein nichtssagendes, hageres Gesicht vor mir auf. Ich hätte geschworen, den Mann irgendwo schon einmal gesehen zu haben und rätselte, wo es gewesen sein könnte.
    Doch so sehr ich mich auch bemühte – ich vermochte mich nicht daran zu erinnern.

TARTAROS
    Die Leidenschaft für die Wahrheit wird zum Schweigen gebracht durch Antworten, die das Gewicht unbestrittener Autorität haben
.
    Paul Tillich
    Als ich angekommen war, warf die Wintersonne bereits kalte Strahlen über den See, die ebenso weiß waren wie das Eis, von dem sie reflektiert wurden. Ich fühlte erstaunlicherweise keinerlei Erschöpfung angesichts der halsbrecherischen Fahrt vom Westen herauf und durch den Glemswald, Kälte sowieso nicht. Genau genommen fühlte ich gar nichts, doch da dies, seit ich denken kann, der Normalzustand ist, nahm ich es nicht zu Kenntnis. Abgesehen von der kleinen Wolke, die mein rasch gehender Atem verursachte, hatte sich der Glemstalnebel bereits verzogen, und es versprach ein sonniger Tag zu werden. Ein paar Stunden würden allerdings noch vergehen, bis sich die ersten Jogger und Hundefreunde ums Bärenschlösschen tummeln würden. Noch war es still.
    Ich lehnte das Rad an einen Baum und stieg hinunter zu der Stelle, die mir seit Jahren in Stunden der Not Zuflucht geboten hatte. Es war eine kleine Bucht an der äußersten Nordspitze des Sees, im Sommer vollkommen abgeschirmt von dichten Bäumen

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