Der Kranich (German Edition)
und selbst in dieser Jahreszeit von den Spazierwegen aus nicht einsehbar. Ralf kannte den Ort natürlich, denn im Grunde genommen war es ja „sein“ See, doch Ralf lag um diese Zeit mit einer seiner Schönen der Nacht in den Kissen, und das war gut so. Nicht einmal Maya würde mir hierher folgen.
Ich war allein.
Die drei kleinen Stauseen jenseits von Büsnau waren seinerzeit angelegt worden, um Stuttgarts Trinkwasserversorgung zu verbessern und sind nun ein Naturparadies. Kristallklares Wasser umspült die Bäume, die sich ans Ufer schmiegen, Brutplätze zahlreicher Vogelarten am Rande eines ausgedehnten Rotwildparks. Im Sommer spiegelt sich die Unendlichkeit so blau in den sanften Wellen, wie der USB-Stick, den meine Hand umkrampft hielt.
Ich liebte diesen Platz.
Jetzt gab es keine Wellen und keine blaue Unendlichkeit. Knirschend gab das Eis ein wenig unter meinen Schuhen nach. Kleine Risse breiteten sich spinnwebförmig aus. Fast hatte ich das Gefühl zu schweben. Den USB-Stick fest umschlossen, ging ich weiter, Richtung Mitte des Sees, Knirschen, Risse begleiteten jeden meiner Schritte. Ich kann nicht sagen, dass ich mit dem Gedanken flirtete einzubrechen. Doch er hatte auch nichts Beängstigendes an sich. Weder wusste ich, warum ich hier war, noch in welche Richtung mein Weg anschließend gehen würde. Es schien auch nicht von Bedeutung zu sein. Alles folgte seinem natürlichen Ablauf. Luke Skywalker, Maya, Darth Vader und all die anderen Spieler waren nichts als Figuren auf einem gigantischen Schachbrett.
Unwillkürlich musste ich an Dr. Elvert denken. Er liebte dieses Spiel. Doch bislang hatte ich ihn noch nicht dazu bringen können, eine Partie mit mir zu wagen. Er war gut. Nahm ab und zu an Amateurturnieren teil. Ich hätte zu gerne gewusst, ob ich in der Lage war, ihn zu schlagen.
Etwa in der Mitte des Sees angekommen, setzte ich mich und spürte, wie meine Körperwärme das Eis unter mir allmählich verflüssigte. Es war dick an dieser Stelle. Die Chance, mitsamt dem Stick in der dunklen Tiefe zu verschwinden, stand ungefähr eins zu einer Million. Aber plötzlich tauchte in weiter Ferne, unklar, schemenhaft noch, der Umriss eines Gedankens auf, und im selben Augenblick wusste ich, dass Maya unrecht hatte.
Es gibt immer einen Ausweg.
Thomas Lamprecht erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen. Benommen blickte er um sich, suchte vergeblich nach Metallstreben vor den Fensterscheiben, durch die grelles Licht fiel. Duftende Bettwäsche mit Blumenmuster, gedämpfte Stimmen, die durch die Zimmertür drangen, Kinderlachen. Endlich gelang es ihm, den Punkt seines Lebens, an dem er sich befand, zu rekonstruieren und entspannte sich. Der kleine Wecker neben dem Bett zeigte fast Mittag. Zu viel Valium am Vorabend, um schlafen zu können, er seufzte. Mühsam klaubte er seine schmerzenden Glieder zusammen und begann, sich nach der inzwischen deutlich abgeklungenen Anfangseuphorie mit den problematischen Aspekten seiner weiteren Vorgehensweise zu befassen.
Gewisse technische Voraussetzungen würden notwendig sein, doch Lamprecht war nur allzu bewusst, dass er weder über die Kenntnisse noch über Zeit und Mittel für aufwendige Investitionen in diesem Bereich verfügte. Judith besaß keinen Computer, er selbst nicht einmal ein Handy. Nicht, dass er in den vergangenen Jahren keine Möglichkeit gehabt hätte, den Anschluss an diesen Teil der Menschheitsentwicklung zu halten, doch er hatte sich nie darum gekümmert. Er hatte immer den direkten Kontakt bevorzugt und war der Meinung, ein handelsübliches Telefon sei mehr als genug virtuelle Welt. In dieser Hinsicht konnte man ihn sicherlich als konservativ bezeichnen.
Jetzt hatte er ein Problem. Er würde Hilfe brauchen, und das war eine Situation, die ihm alles andere als gelegen kam.
Er stieg aus dem Bett, streifte einen Morgenmantel über und begab sich ins Wohnzimmer, wo er von Nina begeistert begrüßt wurde. Einen Moment lang spürte Thomas Lamprecht eine befremdliche Wärme, als das Kind unbefangen auf seinen Schoß kletterte. Erinnerungsfetzen aus der eigenen Kindheit tauchten auf, dann beunruhigenderweise für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht von Dr. Elvert. Erschaudernd dachte er daran, dass am nächsten Tag bereits Montag war, dass er mehr als genug zu tun haben würde und dann auch noch diese verhasste Therapiestunde durchzustehen hatte. Sehnsüchtig schielte er nach seinem Mantel draußen im Flur an der Garderobe, in dessen Tasche sich ein kleines,
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