Der Kranich (German Edition)
erinnerte, gefiel ihm ausgesprochen gut. Ganz sicher würde er nie wieder etwas trinken, wenn er mit dieser Frau zusammen war!
Es war ungewöhnlich, dass er sie am Vortag angerufen hatte, es war ungewöhnlich, dass er mitten in der Woche ausging, und eigentlich war es ungewöhnlich, dass er ein Mädchen überhaupt ein zweites Mal anrief. Doch Vicky war eben auch ungewöhnlich!
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, stieg er aus dem Bett und sah eine Weile durch das schräge Dachfenster hinaus. Büsnau befand sich noch in einem tiefen, in Wattenebel gepackten Schlaf. Die Uhr zeigte erst Viertel nach sieben, vor acht brauchte er nicht bei der Arbeit zu sein, so setzte er sich noch einen Moment an sein 17"MacBook Pro, um seine Mails durchzusehen. Da nichts Interessantes dabei war, schaute er bei Twitter rein, was er sonst eher selten tat. Vielleicht war das Gespräch mit Luke, das ihn noch immer beschäftigte, der Grund dafür. Er las allerlei sinnlosen Kram, ging die Heise-News durch, verfolgte ein paar Hashtags und wollte sich schon ausklinken, als er einem plötzlichen, unerklärlichen Impuls folgend, #
code
eingab. Grinsend überflog er die selbstgefälligen Äußerungen der selbsternannten Programmierelite, doch plötzlich stockte sein Atem.
Ralf rieb sich die Augen, vergewisserte sich, dass er tatsächlich wach war und las den Tweet erneut. Fassungslos starrte er auf den Benutzernamen. Er klickte sich ins Account-Profil – und tatsächlich: die gesamte Code- Sequenz stand dort in einer Folge von vier aufeinanderfolgenden Tweets zu lesen. Sekundenlang verharrte er wie erstarrt, dann sprang er eilig in die Kleider, nahm sein iPhone vom Bett, rief Christos Pandakis an und meldete sich krank. Dass sein Chef nicht eben begeistert war, weil sich fünf Wagen zur Reparatur stauten, kümmerte ihn in diesem Moment nicht. Flüchtig küsste er die schlaftrunkene Vicky, vertröstete sie auf den Abend und raste mit quietschenden Reifen über den Schattenring.
Zur gleichen Zeit klingelte im dritten Stock des Wangener Firmensitzes von Avaleet das Telefon.
Karl-Heinz Emmerich wusste, dass Mario Pross bereits an seinem Platz saß. Sie hatten sich angewöhnt, ihre Recherchen früh morgens oder spät abends durchzuführen, wenn sie ungestört waren. Ein paar mal hatte Emmerich auch von zu Hause aus nachgeforscht, was sich jedoch als zu mühselig herausstellte. Die Firmenrechner waren bei Weitem leistungsstärker und in der Lage, eine Vielzahl von Datenbanken parallel zu durchsuchen. Es ergaben sich im Rahmen der Suchkriterien jedes Mal ein paar hundert Treffer, die sich sogleich auf einige wenige wirklich interessante Eingaben reduzieren ließen. Doch einer genaueren Prüfung hatte bislang keiner der Funde standgehalten.
Nun allerdings blickte Emmerich seit geraumer Zeit auf eine Sequenz, die ihm umso bemerkenswerter erschien, je länger er sich damit beschäftigte. Es schien sich um ein Quine neuen Typs zu handeln, doch der Auszug aus dem Quellcode war zu kurz und lückenhaft, um genauere Rückschlüsse zuzulassen. Emmerich spürte, wie sich seine Bronchien verkrampften und griff nach seinem Spray.
Kurz darauf starrte Mario Pross auf den Ausdruck, den sein Kollege in der Hand hielt. „Verdammt noch mal! Das ist ein Jackpot. Du musst das sofort löschen und dann …“
„Was redest du da? Man kann Tweets nicht einfach so löschen, dazu bräuchte man schon Administratorrechte.“
„Mach dich nicht lächerlich. Ich weiß, dass du das kannst. Und beeil dich, es ist gleich acht.“
Unruhig rutschte Karl-Heinz Emmerich auf seinem Sitz hin und her. „Mario, ich will da in nichts mit reingezogen werden …“
„Nicht reingezogen werden?“, echote Pross. „Du steckst doch schon längst bis Oberkante Unterkiefer mit drin! Außerdem kann ich in deinen Augen sehen, wie geil du auf diese Sache bist. Wir beide sind vielleicht die Einzigen hier im Haus, die was von kreativer Software verstehen. Und wir beide wissen, dass dieser Ansatz – vielleicht – das Potenzial hat, Deep Blue wie einen Kaugummiautomaten aussehen zu lassen! Selbstständig denkende Avatare! Ein Spiel, das niemals langweilig wird, weil es sich permanent selbst weiterentwickelt … wie das Leben. Dialogbasiert. Eine perfekte Matrix. Du würdest in den Geschichtsbüchern stehen!“
„Denkst du, dass mir das was bedeutet? In den Geschichtsbüchern zu stehen? Das erlebe ich sowieso nicht mehr. Ganz abgesehen davon, dass das, was ich da in der Hand habe, nicht mehr
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