Der Kranich (German Edition)
Öffner und ließ die Wohnungstür einen Spalt offen, dann versuchte er in Windeseile, wenigstens die schlimmste Sauerei zu beseitigen, doch als er sich kurz darauf umdrehte, ließ er erschrocken das Handtuch sinken.
Der Zustand, in dem sich sein bester Freund befand, ließ den Zustand der Küche augenblicklich in den Hintergrund treten. Kalkweiß und zitternd stand Lukas an den Türrahmen gelehnt.
Ralf warf eine Handvoll Briketts in den Ofen, stellte Wasser auf die Herdplatte und nahm ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank. „Fuck, was zur Hölle machst du?!“
Lukas grinste mühsam. „Ja, ich freu mich auch, dich zu sehen.“
„Okay. Zieh dir erst mal was Trockenes an.“ Ralf warf ihm die Sachen zu.
Als er mit dem Tee und ein paar Keksen aus der Küche zurückkam, sah Lukas in den viel zu großen Kleidern aus wie Eminem, doch so elend wie er auf dem Sofa lag, war Ralf nicht zum Scherzen zumute.
„Was ist los, Luke? Warum meldest du dich nicht? Kannst du dir vielleicht vorstellen, dass es Menschen gibt, denen du etwas bedeutest?“
Der Sturm peitschte Regenböen an die Fenster, die Kohle knisterte im Ofen und verbreitete behagliche Wärme.
Allmählich hörte Lukas auf zu zittern. „Nicht wirklich.“
„Ich weiß. Hast du was eingeworfen?“
„Nicht der Rede wert. Ich brauche deine Hilfe.“
Ralf seufzte. „Du meinst, abgesehen davon, dein Quine zu beschützen und dich vor dem Gewitter zu retten?“
„Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Zwanzig Minuten später war Ralf so übel, dass er einen Keks nach dem anderen in den Mund schob, um sich nicht zu übergeben.
„Weißt du, was du da von mir verlangst?“
Lukas nickte stumm.
„Und Eva, ich meine …“
„Das ist der Grund. Deshalb musste ich es beenden.“
Verzweifelt schüttelte Ralf den Kopf. „Nein. Ich glaube das einfach nicht. Es muss einen anderen Ausweg geben. Du weißt doch noch überhaupt nicht …“
„Wenn ich es weiß, wird keine Zeit mehr sein. Deshalb sage ich es dir jetzt.“
„Und wer, denkst du, sind die? Ich meine, du vermutest doch irgendwas?“
„Ein international operierender Wirtschaftskonzern, eine Großbank, die CIA … die Camorra. Ist nicht wirklich wichtig.“
Zweifelnd sah Ralf seinen Freund an. Er war sich schmerzlich bewusst, dass er weder ein Psychologe, noch ein Experte auf dem Gebiet der organisierten Kriminalität war. Und selbst wenn er einer gewesen wäre – zwischen Wahn und Wirklichkeit befand sich nur ein sehr schmaler Grat.
Lukas, der sichtlich Mühe hatte, noch die Augen offenzuhalten, richtete sich auf. „Ich muss jetzt gehen.“
„Du kommst doch nicht mal mehr bis zur Bushaltestelle. Ich fahr dich morgen früh runter, wenn du willst.“
Lange nachdem Lukas eingeschlafen war, saß Ralf noch immer neben dem Sofa und starrte auf das schwarze Nichts hinter den Scheiben, über die unaufhörlich Wasser strömte.
16
Vielleicht war es nicht der beste Augenblick, doch es war auch nicht der schlechteste.
Mittags hatte es einen Anruf von der Organisation gegeben, man würde sich am frühen Abend treffen, um den Stand der Dinge zu erörtern. Mehr war nicht zu erfahren gewesen. Nina verbrachte den Nachmittag bei einer Freundin, und Judith war früh von einem ihrer Putzjobs zurück. Obwohl Thomas Lamprecht weiterhin nicht davon ausging, sich in ernsthafter Gefahr zu befinden, hatte ihn doch eine deutlich spürbare Nervosität ergriffen, und er wollte die wesentlichen Dinge in seinem Leben auf jeden Fall geregelt wissen. Also hatte er Judith gebeten, mit dem Abspülen noch einen Moment zu warten, sich an den Wohnzimmertisch zu setzen und die Augen zu schließen. Dann hatte er zwei der guten Gläser aus dem Schrank genommen, die Flasche Spumante dazugestellt und eine Kerze angezündet.
Es war richtig feierlich! Gerade als Judith langsam ungeduldig zu werden begann und fragte, wann sie die Augen endlich wieder öffnen dürfe, kam er mit dem kleinen Plastikdöschen aus dem Schlafzimmer zurück. Für eine Sekunde erwog er, vor ihr auf die Knie zu fallen, doch das erschien ihm dann doch zu theatralisch. Also stellte er den Ring einfach auf den Tisch und blieb stehen.
„Du kannst jetzt schauen.“
Judith öffnete die Augen, sah zuerst ihn an und dann auf das geöffnete Döschen. Es regnete noch immer, draußen war es, obwohl mitten am Nachmittag, fast dunkel, und der kleine Diamant glitzerte im flackernden Kerzenschein. Sie schien von der unerwarteten Situation so verwirrt, dass sie nur
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