Der Kranich (German Edition)
Sie der Urheber dieses äußerst unorthodoxen Ansatzes sind. Hier ist unser Angebot: Sie liefern uns ein funktionsfähiges Programm oder – “ Es entstand eine bedeutungsvolle Pause. „Oder seinen Entwickler. Dann würden meine Auftraggeber Ihren Honorarforderungen weitgehend entgegenkommen.“
Fast hätte Lamprecht laut gelacht. „Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich ihn entführen?“
„Wie Sie das machen, ist allein Ihre Sache. Sie haben drei Tage.“
Seit Stunden saß Eva am Schreibtisch, starrte auf die wenigen, dürftig beschriebenen Seiten der Hausarbeit und kaute auf ihren Nägeln herum. Abgekaute Fingernägel waren hässlich, doch was spielte das noch für eine Rolle? Und was, verdammt noch mal, interessierten sie „Täter und Tatmotive aus sozialpsychologischer Sicht“? Köberle hatte ihr von dem Thema abgeraten, obwohl der für Strafrecht überhaupt nicht zuständig war. Sie hätte auf ihn hören sollen. Doch auf gute Ratschläge zu hören, gehörte nicht zu ihren Stärken. Plötzlich verspürte sie den unwiderstehlichen Impuls, alles in den Mülleimer zu werfen.
Der Regen hatte aufgehört, doch der Tag war von einer Trostlosigkeit, wie es schlimmer kaum hätte sein können. Eine Woche. Genau eine Woche war es nun her, dass ihr Glaube an einen wie auch immer gearteten Sinn der Dinge in einer vermutlich irreparablen Weise erschüttert worden war. Zurück blieb nur eine alles verschlingende Leere. Es war eine Leere, die keinerlei Reaktionen mehr zuzulassen schien, nicht einmal die der verzweifelten Art. Sie aß kaum, schlief kaum, lief herum wie ein Zombie, wie ein ferngesteuerter Roboter, ohne Gefühle und ohne Ziel. Nur um in Ruhe gelassen zu werden, gab sie sich einen dürftigen Anschein von Normalität. Am Ende waren nicht einmal mehr Gedanken an Lukas da. Sie würde durch die Prüfung fallen, doch auch das hatte keine Bedeutung mehr. Tübingen, Anke, das sogenannte normale Leben – all das war plötzlich in weite Ferne gerückt.
Irgendwann, als es längst dunkel im Zimmer war, stand sie, einer spontanen Eingebung folgend, auf, griff nach ihrer Jacke und verließ das Haus. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Mutter noch nicht von der Arbeit zurück war – das ersparte ihr lästige Erklärungen. Vielleicht war es der verzweifelte Versuch, nicht verrückt zu werden, der sie ins Auto steigen und Richtung Büsnau fahren ließ, sie würde es später nicht mehr wissen. Vielleicht war es auch die vage Hoffnung, doch noch eine Antwort zu bekommen. Eine Antwort, die ihr etwas Selbstachtung zurückgeben würde – nur so viel, dass es zum Weiterleben reichte.
An diesem Abend hatte sie Glück. Ralf war zu Hause, und er war allein. Er schien nicht einmal sonderlich überrascht zu sein, als sie plötzlich vor seiner Tür stand.
„Komm rein.“
„Störe ich dich auch nicht?“
„Nein.“
Eva kannte Ralf nur über Lukas, also weder allzu lange noch allzu gut, und sie war noch nie bei ihm zu Hause gewesen. Dass sie überhaupt wusste, wo er wohnte, war eher ein Zufall. Neugierig sah sie sich in den beiden Zimmern um, von denen das größere zugleich Schlaf-, Wohn- und Computerzimmer zu sein schien, während das kleine offensichtlich als eine Art Freizeitwerkstatt diente. Unwillkürlich musste sie lächeln. Der Kontrast zwischen Apple-Styling und Auspuffrohren war schon sehr eigen.
Ralf kam mit einer Flasche Weißwein aus der Küche. „Setz dich doch.“
Zögernd setzte Eva sich aufs Sofa, eigentlich eher eine Art Diwan, und deutete auf den Tisch, wo neben dem silbern glänzenden MacBook noch ein anderes Notebook lag. Es war schwarz und abgegriffen, und sie kannte es gut. „Ist das seins?“
Ralf nickte, entkorkte den Wein und schenkte zwei Gläser voll.
„Warum ist es bei dir?“
Er schwieg, doch die Frage war ihm sichtlich unangenehm.
„Was ist los? Warum gibt er dir sein Notebook?“
„Warum bist du hier, Eva?“
Eva griff nach ihrem Glas und trank es in einem Zug leer. Der Wein schmeckte bitter. „Keine Ahnung. Darf ich?“ Sie schenkte sich ein zweites Glas ein und trank es ebenfalls leer. Augenblicklich zeigte der ungewohnte Alkohol auf leeren Magen Wirkung, und sie fühlte sich besser. „Gibt es eine andere?“
Zögernd, wie um Zeit zu gewinnen, nahm auch Ralf sein Glas vom Tisch und nippte daran. „Vielleicht ist er nicht … der, den du in ihm gesehen hast.“
Sie saßen lange und redeten. Die Flasche wurde leer, dann eine zweite. Eva wusste, dass sie zu viel
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