Der Kranich (German Edition)
einen schwarzen Rollkragenpullover entschieden, klingelte es an der Tür. Sie hoffte, dass ihre Mutter nicht öffnen würde und legte noch eilig eine Schicht magentaroten Lippenstift auf, dann griff sie nach Jacke und Tasche und stürmte aus dem Haus.
Draußen blieb sie atemlos stehen.
Mikael Andersson hatte seine nachtschwarze Harley Davidson auf der anderen Straßenseite abgestellt. Ebenso schwarz in seiner Lederkombi stand er lässig daran gelehnt, eine Zigarette in der Hand, und sah zu ihr herüber. Er war groß und kräftig, ohne dick zu sein, athletisch wie ein Bodybuilder. Die Silhouette der hellblauen Jeansweste hob sich von der Dunkelheit ab. Das auffällige Backpatch auf dem Rücken – ein Falke mit zwei gekreuzten Streitäxten darunter – konnte Eva nicht sehen, doch das war auch nicht nötig. Sie hatte es oft genug gesehen. Und es machte ihr keine Angst mehr. Seltsamerweise machte auch er ihr keine Angst mehr. Doch sie war noch immer unschlüssig, ob sie ihn eigentlich sehen wollte oder nicht.
Sie überquerte die Straße, setzte den Helm auf, den er ihr wortlos reichte, und stieg hinter ihm auf die Maschine. Sie schaute sich nicht um, doch sie spürte den Blick ihrer Mutter vom Küchenfenster.
Die Harley war nagelneu und getuned. Der eisige Wind riss an Evas Kleidern, und sie klammerte sich am Fahrer fest, um nicht in einer der Kurven, die er fast flach auf dem Boden liegend nahm, verlorenzugehen. Er fühlte sich vertraut an. Sie schloss die Augen und empfand die Erleichterung, die es bedeutete, bei Tempo zweihundert alles hinter sich zu lassen. Es war unmöglich, sich dem Rausch der Geschwindigkeit zu entziehen. Es gab nur das Geräusch des Motors, den Asphalt, der sich unter ihnen entrollte wie ein endloses anthrazitfarbenes Band, vorbeifliegende Lichter, Kälte und Nacht. Die Dinge des Lebens bedeuteten nichts mehr.
„Warum?“
Es war später in der Nacht, als er die Frage stellte, die sie erwartet hatte, jedoch nicht beantworten konnte. Mikael Andersson war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen, daher schaffte er es ohne Weiteres, alles, was die vergangenen Monate betraf, in einem einzigen Wort zusammenzufassen. Nur, dass er nicht das Recht hatte, danach zu fragen.
Sie befanden sich irgendwo außerhalb der Stadt in einem Klubhaus des Stuttgarter Chapters – einer der zahlreichen Ortsgruppen des mitgliederstarken, überregionalen Ironhawk-MC. Kalle war euphorisch begrüßt worden, doch nun waren die anderen Anwesenden wieder mit sich selbst beschäftigt, und Eva und Kalle hätten Gelegenheit gehabt zu reden, wenn es etwas zu bereden gegeben hätte. Sie hatte gerufen, und er war gekommen. Viel mehr gab es nicht zu sagen.
Lange sah er sie ernst und schweigend an. Ließ seine Hand an ihrem Körper entlanggleiten, unter ihren Rock, zwischen ihre Schenkel. „Ist es vorbei?“
Sie nickte.
„Und Luke?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Er ist nicht der, für den du ihn gehalten hast.“
„Hab ich irgendwo schon mal gehört.“
Er zog sie zu sich und küsste sie lange und fordernd, als wolle er klarstellen, dass die Eigentumsfrage nunmehr wieder unmissverständlich geregelt sei.
„Er hat es sich ganz schön zu Herzen genommen. Hätte ich nicht gedacht. Ich glaubte, das wären Profis wie wir …“
Zum zweiten Mal an diesem Tag stand Martin Beier an Henk van Buytens Türrahmen gelehnt, und er war nicht gut drauf. Zu den Magenschmerzen hatten sich seit dem Nachmittag hämmernde Kopfschmerzen gesellt, und bei seiner Rückkehr ins Präsidium hatte er zu allem Überfluss auch noch erfahren, dass er mit sofortiger Wirkung leitender Ermittler in einem besonders unappetitlichen Fall von schwerer Körperverletzung war, wahrscheinlich im Umfeld der organisierten Kriminalität. Er hatte den Fall zugeteilt bekommen, weil er gerade da war, weil jeder im Haus wusste, dass er keinen Aufstand machen würde, wenn er mal wieder einen Sonntag drangeben musste, und weil es ziemlich wahrscheinlich war, dass über kurz oder lang ohnehin ein Mordfall daraus werden würde. Außerdem hatte man ihm unmissverständlich klargemacht, dass für den Suizid van Buyten zuständig war und er sich da ab sofort rauszuhalten habe. Das kam natürlich nicht von Henk, es kam von „oben“, doch das machte es auch nicht besser.
„Du meinst den Therapeuten?“ Martin Beier lächelte gequält. Es war seltsam, eine derartige Aussage gerade von dem Kollegen zu hören, der mit Sicherheit trotz seiner ansehnlichen Anzahl von
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