Der Kranich (German Edition)
Gummihandschuhe über, bückte sich, sammelte die im Gras verstreuten leeren Schachteln ein und verstaute sie sorgfältig in einer Plastiktüte.
„Diazepam, Palladon, Paroxetin, Doxepin. Wussten Sie davon?“
Ralf trat von einem Bein aufs andere und ließ den Blick suchend am Ufer entlangschweifen. Außer den Schachteln war weit und breit nichts zu sehen. Nur unberührte Natur. Kein Zeichen deutete darauf hin, welchen Weg Lukas genommen hatte. Schleichende Angst begann in ihm aufzusteigen, die Taucher könnten doch etwas finden. Luke Skywalkers Gedankengänge waren für Normalsterbliche noch nie nachzuvollziehen gewesen. Erinnerungsfetzen flogen vorbei. Erinnerungen an gemeinsame Momente, von denen jeder einzelne ein Geschenk war. Und er wusste, dass Eva genauso empfand. Luke war schon immer ein Paradiesvogel gewesen, etwas zu bunt und zu exotisch für diese Welt. Blieb zu hoffen, dass er einen Ort gefunden hatte, an den er besser passte.
„Herr Albin?“
„Ja … ich meine nein. Also er war … er war in Behandlung.“
„Kennen Sie den Namen seines Arztes?“
„Er ist Psychologe, glaube ich. Er heißt Elvert. Die genaue Adresse weiß ich nicht, aber die Praxis befindet sich in Vaihingen.“
Der Kommissar zog einen Notizblock aus der Tasche und begann zu schreiben. „Wie sieht es mit Angehörigen aus? Wissen Sie, wer zu benachrichtigen ist?“
„Ich glaube, von seiner Familie lebt niemand mehr. Er war …
ist
eher ein Einzelgänger. Eigentlich gibt es nur mich und …“ Ralf biss sich auf die Lippe. „Darf ich Sie etwas fragen?“
Der Kommissar hob die Brauen.
„Sind Sie der Vater von Eva?“
Ein Nicken erfolgte.
„Sind Sie nicht eigentlich bei der Mordkommission?“
„Das stimmt.“
„Und haben Sie … ich meine, weiß sie es schon?“
„Nein. Ich wollte zuerst völlig sicher sein.“
„Ich verstehe.“
Ein betretenes Schweigen entstand, und Ralf begann, sich weit weg zu sehnen. Die Taucher und wer sonst noch auf dem Weg war, ließen sich Zeit. Aber er war auch nicht scharf darauf, dem Fortgang der Prozedur beizuwohnen, sondern verlegte sich lieber darauf, daran zu glauben, dass sein Freund sich auf dem Weg zu einem palmengesäumten Sandstrand befand und irgendwann von sich hören lassen würde …
Er räusperte sich. „Brauchen Sie mich hier noch? Sonst würde ich gerne …“
„Natürlich. Sie können gehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Aber halten Sie sich bitte zur Verfügung, falls wir noch Fragen haben.“
Gustav Elvert trat in Pantoffeln auf den Balkon hinaus und schüttete etwas Futter in das kleine bunte Vogelhäuschen. Er ging ins Zimmer zurück, schloss die Tür und zog die Gardine vor. Dann wartete er ein paar Minuten, bis sich die ersten gefiederten Frühstücksgäste einfanden. Genau genommen war es allerdings schon Mittagessenszeit. Er beobachtete sie lächelnd, wie sie einer nach dem anderen heißhungrig nach den Körnern pickten, sich stärkten und schließlich wieder ihrer Wege zogen.
Er fühlte sich entspannt. Im Großen und Ganzen war die Woche erfreulich verlaufen, und er hatte sich ganz bewusst den Samstagvormittag Zeit genommen, um mal wieder richtig auszuschlafen. Das hatte gut getan. Für Haushalt, Einkäufe und Ähnliches war schließlich am Nachmittag noch genug Zeit. Seit der letzten Supervisionsstunde hatte er außerdem beschlossen, den düsteren und sorgenvollen Gedanken bis auf Weiteres eine Absage zu erteilen. Es musste noch ein Leben jenseits der Therapiesitzungen geben!
Gustav Elvert stellte das Radio an – ein Klassiksender ohne störende Nachrichten – und setzte Kaffee auf. Dann wandte er sich seinen Kakteen zu. Abgesehen vom Schachspiel, das er in den letzten Jahren nicht mehr betrieb, war dies sein einziges Hobby, und es machte ihm Freude zu sehen, wenn die Pflanzen gediehen und manchmal sogar blühten. Wenn sich auf so einem rauen, stacheligen Gesellen plötzlich eine rosafarbene Blüte zeigte, war dies für ihn fast eine Illustration dessen, was sich Woche für Woche ein Stockwerk tiefer abspielte. Wenn es gut lief.
Er war so sehr in seine Tätigkeit vertieft, während der er Pläne für das beginnende Wochenende schmiedete, dass er den Kaffee vergaß und sogar beinahe das Telefon überhört hätte. Nach längerem Klingeln hörte er es doch. Verwundert, da er keinen Anruf erwartete, griff er zum Hörer. Es meldete sich ein Kommissar Van Buyten, der einen sympathischen holländischen Akzent hatte und anfragte, ob er vorbeikommen
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