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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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könne, um mit ihm über einen Klienten zu sprechen. Seltsamerweise dachte Elvert sofort an Thomas Lamprecht.
    An Lukas dachte er keine Sekunde.
    Eine Stunde später hatte Gustav Elverts Gesicht die Farbe der Zimmerwand. Der Kommissar trat zu ihm, fasste ihn am Arm und brachte ihn zum Sofa. Anschließend holte er ihm ein Glas Wasser aus der Küche.
    „Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Ihnen das sagen muss. Ich verstehe, dass das ein Schock für Sie ist.“
    Elvert versuchte sich in dem Nebel, der ihn plötzlich umgab, zurechtzufinden. „Lukas?“ hörte er sich sagen. „Lukas Stegmann? Wie … ich meine … ich verstehe nicht …“ Es war nicht zu verstehen. Die Wände stürzten auf ihn herunter.
    „Wir haben ihn immer noch nicht gefunden. Taucher suchen den See ab, aber wegen der Witterungssituation ist das schwierig. Die Indizienlage ist aber ziemlich eindeutig. Und er hat es ja auch angekündigt. Sie wussten nichts davon?“
    Entgeistert blickte Gustav Elvert den Beamten an. „Was meinen Sie mit angekündigt?“
    „In einem Internetforum. So haben wir es überhaupt erfahren. Aber wie es aussieht, kamen wir zu spät. Ich habe Ihnen den Text ausgedruckt.“
    Elvert merkte nicht, wie der Kommissar ging und ihn allein ließ. Er saß da, in einer Welt, die aufgehört hatte zu existieren, und starrte auf den Zettel in seiner Hand. Wieder und wieder las er die wenigen Sätze, die paar Zeilen, achtlos hingeworfen, eine Faust, die ihn direkt ins Gesicht traf.
    Er ging zu Boden.
    Benommen richtete er sich wieder auf, stieg wie ein Schlafwandler, wie in Trance, die Stufen zur Praxis hinunter. Stand vor dem Schachbrett, auf dem sich seit dem Spiel mit Lukas immer noch die Figuren befanden, aus einem Grund, den er nicht kannte und der ihm nun wie Zynismus erschien, hatte er sie nicht weggeräumt, hatte sie stehen lassen, wie ein Bataillon gegnerischer Armeen standen sie sich gegenüber, auf dem Brett, das zum Schlachtfeld geworden war.
    Mit einem würgenden Laut, der ein Schrei hätte sein sollen, ihm jedoch im Halse stecken blieb, warf er sich auf das Brett, fegte die Figuren herunter, dass sie in alle Ecken des Raumes verstreut wurden.
    Irgendwo dazwischen lag er selbst, zerbrochen wie der schwarze König.

EROS
    „Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben“
    Bertolt Brecht: Die Liebenden
    Eva stand am Fenster ihres Zimmers und beobachtete, wie die Sonne allmählich hinter den Dächern der Nachbarhäuser verschwand. Sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet und wieder geschlossen wurde, kurz darauf drang das Klappern von Geschirr zu ihr. Sie zögerte jedoch, zu ihrer Mutter in die Küche zu gehen. Mit einem unguten Gefühl fragte sie sich zum wiederholten Mal, was es mit der plötzlichen übertriebenen Fürsorglichkeit auf sich hatte, die sie in den letzten Tagen erfuhr. Seit ihrem vierten Lebensjahr war sie nicht mehr in einer derartigen Weise bemuttert worden, und es begann langsam lästig zu werden. Irgendetwas sagte ihr, dass ihr Vater da seine Hand im Spiel hatte, doch sie nahm es ihm nicht übel. Auf diese Weise sprachen ihre Eltern wenigstens wieder miteinander.
    Außerdem hatte sie momentan andere Sorgen. Kalle würde bald da sein, und seit Stunden fragte sie sich, ob sie das wirklich wollte, oder ob es nur eine besonders selbstzerfleischende Art war, es Luke heimzuzahlen. Wie auch immer, es spielte keine Rolle mehr. Die Sonne war inzwischen völlig verschwunden, und im Zimmer war es fast dunkel geworden.
    „Bist du da, Süße?“, drang es vom Flur herüber, und sie wandte sich seufzend vom Fenster ab.
    In der Küche duftete es bereits verführerisch nach Curry. Eva gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss und setzte sich an den Tisch.
    „Ich dachte, ich koche uns mal wieder was Schönes. Hast du Hunger?“
    „Ein bisschen. Ich bin aber nicht mehr lange da.“
    Susanne Beier wandte sich von dem Topf ab, in dem sie rührte, und sah ihre Tochter überrascht an. „Du gehst noch mal weg?“
    „Ich werde gleich abgeholt. Besser, ich zieh mich schon mal um.“
    Eva verschwand wieder in ihr Zimmer und verbrachte einige Zeit unschlüssig vor dem Kleiderschrank. Da es sinnlos war, ihrer Mutter Dinge erklären zu wollen, die sie selbst nicht begriff, versuchte sie es gar nicht erst und war froh, dass weitere Fragen ausblieben. Kaum hatte sie sich für einen bunten Faltenrock mit warmen Leggins und

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