Der Kranich (German Edition)
befand. Der größere Teil war noch immer zugefroren, etwas weiter weg von mir, zur Mitte hin. Doch das Eis war nicht mehr tragfähig, war brüchig geworden wie meine Gegenwart.
Ich hatte meine Tasche neben mich gestellt und den Sonnenaufgang beobachtet. Ich saß völlig bewegungslos, Stunde um Stunde, bis die kleinen Tiere des Waldes mich für einen Baumstumpf hielten und sich mir bis auf Handbreite näherten. Allmählich kroch die Nässe und Kälte durch meine Kleider, hielt meinen Körper fest im Griff.
Ich dachte an Mayas Worte. Sie hatte wie immer recht. Ich hatte meine Entscheidung noch nicht getroffen, doch langsam wurde es Zeit, dass ich es tat. Ich dachte an Ralf, Eva, Dr. Elvert. Und ich dachte an die, die schon gegangen waren. Ich empfand keinerlei Groll, keine Enttäuschung angesichts verpasster Chancen und unerfüllter Wünsche. Die meisten Dinge, die anderen so ungeheuer wichtig erschienen, interessierten mich ohnehin nicht. Auch die Frage, wie lange ich mein Leben noch weiterleben würde, hier, auf Fernando Poo oder wo auch immer, erschien mir eher unbedeutend.
Vorsichtig, um die Tiere nicht zu erschrecken, die sich um mich tummelten, griff ich nach meiner Tasche und zog den Reißverschluss auf. Ich nahm die Schachteln, eine nach der anderen, mit ihrem giftigen Inhalt heraus und legte sie vor mir ins feuchte Gras.
Martin Beier erreichte die Rosenbergstraße 76, kurz nachdem die Streife dort eingetroffen war, und kam dazu, wie die beiden jungen Polizisten in Uniform einander ratlos ansahen. Er betrat die Wohnung und wies sich aus.
„Mordkommission?“ fragte einer der beiden irritiert. „Warum Mordkommission? Ich dachte, hier geht’s um Suizid.“
„Das stimmt wahrscheinlich auch.“ Martin Beier sah keine Veranlassung, weitergehende Erklärungen abzugeben. „Wie haben Sie die Wohnung vorgefunden?“
„Die Tür stand offen, das war seltsam. Sonst nichts Auffälliges. Keine Einbruchsspuren, keine Anzeichen von Gewalt, das sehen Sie ja selbst.“
„Aber es scheint keiner da zu sein“, sagte der andere Beamte, der Küche und Bad inspiziert hatte.
„Machen Sie Meldung, und schreiben Sie einen Bericht. Und richten Sie Kommissar Van Buyten aus, dass ich mich um die Sache kümmere. Vielen Dank.“
„Aber …“, versuchte einer der beiden zu protestieren.
„Ich glaube, ich habe mich klar ausgedrückt. Das war ein Dienstbefehl.“
Nachdem die Streife kleinlaut abgezogen war, hob Martin Beier den Origami-Kranich vom Boden auf und sah sich um. Eine völlig normale Singlewohnung. Gepflegt, doch nicht übertrieben ordentlich. Das Bett war nicht gemacht, Kleidung und Papiere lagen herum. In der Küche stand Brot auf dem Tisch. Alles wirkte, als sei der Bewohner nur rasch aus dem Haus gegangen und käme jeden Moment zurück. Doch sein untrügliches Bauchgefühl sagte dem Kommissar, dass das nicht der Fall sein würde. Nur, was wirklich geschehen war, darüber vermochte er sich noch kein klares Bild zu machen. Lukas konnte überall sein. Vielleicht hatte er tatsächlich beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, vielleicht auch nicht. Es dauerte eine Weile, bis Martin Beier auffiel, dass sich kein Computer im Raum befand. Das gab ihm zu denken.
Unschlüssig sah er auf die Uhr. Es war bereits fast zehn Uhr vormittags. Kurz erwog er, seine Tochter anzurufen, entschied sich jedoch dagegen. Dafür war es noch zu früh. Er durchstöberte gerade die herumliegenden Papiere und den Mülleimer, ohne jedoch einen brauchbaren Hinweis zu finden, als sein Handy klingelte. Es war Henk.
„Was machst du da, Martin? Warum schickst du meine Leute weg?“
„Ich kenne ihn. Es ist …
war
der Freund meiner Tochter.“
„Hast du ihn gefunden?“
„Noch nicht, aber das werde ich. Ich ruf dich an.“
Einem plötzlichen Impuls folgend nahm Martin Beier den Hörer des Telefons ab, das in einer Ecke des Raumes am Boden stand, und drückte die Wahlwiederholung.
„Albin“, meldete sich eine verschlafene Stimme.
„Beier, Kriminalpolizei. In was für einer Verbindung stehen Sie zu Lukas Stegmann?“
„Er ist mein Freund. Warum? Ist was passiert?“
Sie erreichten die Bucht am Bärensee um die Mittagszeit. Fröstelnd blieb Ralf am Ufer stehen, während der Kommissar das Gebiet absperrte. Ralf hörte ihn mit einem Kollegen telefonieren. Er habe etwas gefunden und brauche Taucher nach Büsnau. Sicherheitshalber auch einen Notarzt, doch der sei wahrscheinlich nicht mehr nötig. Dann zog Martin Beier
Weitere Kostenlose Bücher