Der kranke Gesunde
vielen Stellen man »die Weichen neu stellen« kann. In ihrem Fall wurden Schritt für Schritt alle Veränderungsbereiche berührt, auf die wir näher eingehen werden: eine neue Sicht, die Aufmerksamkeit auf anderes richten, andere Begriffe, neue Formen der Beziehung, neue Entscheidungen und neues Handeln.
Sie haben Nora ja schon weiter vorn im Buch kurz kennengelernt, aber einige biografische Details müssen wir noch nachtragen: Sie ist 42 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Ihre Berufstätigkeit als Medizinisch Technische Assistentin in einem Labor hat sie nach der Geburt ihres ersten Kindes aufgegeben. Ihr somatisches Problem ist die Übelkeit, die manchmal von Magendruck und Durchfall begleitet wird. Das tritt vor allem dann auf, wenn eine Übernachtung »auswärts« auf sie zukommt: im Urlaub, beim Besuchen ihrer Eltern oder der Eltern ihres Mannes. Das wären zwar nicht all zu viele Tage im Jahr. Nur: Der Gedanke an solche außerhäuslichen Übelkeiten bereitet ihr schon Monate vorher Panik und (nach der Lektüre unseres Buches vielleicht nicht mehr ganz so überraschend:) Übelkeit. Zur Überraschung aller Fachärzte helfen die sonst bei Übelkeit wirksamen Medikamente nicht. Seit Jahren wird eine organische Verursachung von verschiedenen Fachärzten immerwieder erwogen und dann nach entsprechenden Untersuchungen ausgeschlossen. Nun also Psychotherapie. Von »Problemen« kann sie – außer von dem der Übelkeit – nicht berichten: In der Familie ist alles gesund, man ist finanziell abgesichert, sie beschreibt ihren Partner als freundlichen Ehemann (auch wenn es manchmal etwas »fade« geworden sei in der Ehe). Wenn nur die Übelkeit nicht wäre!
Welche Veränderungsschritte waren für Nora wichtig?
Im Folgenden beschreiben Nora und ihr Psychotherapeut einige wichtige Erkenntnisse und Knackpunkte im Heilungsprozess, wobei es sich weniger um ein Gespräch handelt als um Noras Schilderung, die ihr Psychotherapeut ergänzt und kommentiert.
Nora: »Bisher hatte ich hinter meiner Übelkeit immer eine unentdeckte Krankheit und eine Gefahr vermutet. Im Rahmen der Therapie wurde mir klar, dass ich Übelkeit auch anders deuten kann, nämlich als eine gesunde biologische Abwehrreaktion gegen ›Unerträgliches‹«.
Psychotherapeut: »Ihre Psyche hat jetzt also die Aufgabe, selbst danach zu forschen, was ihr (der Psyche, nicht dem Körper) in ihrem Leben ›unerträglich‹ bzw. was ihr unangenehm und was angenehm, was wichtig und was weniger wichtig ist.«
Nora: »Mein Therapeut schlug mir vor, das nächste Mal, wenn mir übel ist, ein Experiment zu machen und auszuprobieren, was mir dann guttut. Erstaunlicherweise war gerade Bewegung für mich angenehm. Bisher hatte ich immer genau das Gegenteil getan: mich still zurückgezogen und hingelegt.«
Psychotherapeut: »Die Beschäftigung ihrer ›Psyche‹ mit sich selbst ließ sie ein Problem erkennen, das sich ihre Psyche selbst gemacht hatte, deren Ursache also in der Psyche und nicht im Körper lag: Ihre ständige ängstliche Beschäftigung mit der Frage ›wird mir übel werden?‹ Die Psyche machte sich so in der Gegenwart selbst ein Problem mit der ständigen Vorstellung ihrer körperlichen Beschwerde in der Zukunft! Sie stellte sich diese Beschwerdezukunft wieder und wieder vor (Wiederholungszwang).«
»Ich stelle mir nur vor, wie mir schlecht wird, und mir wird tatsächlich übel!«
Nora: »Genau, dieses Angstkino dieser Begriff stammt nicht von mir, aber ich finde ihn sehr treffend bei dem ich mich in meine Ängste und Übelkeit regelrecht hineingesteigert habe, war viel belastender als die kurzen Phasen, in denen mir tatsächlich übel war! Also, als mir das so richtig klar wurde, musste ich schon schlucken. Und ich habe auf einmal tatsächlich gespürt, wie eng mein Körper und meine Psyche zusammenspielen: Ich stelle mir nur vor, wie mir schlecht wird, und mir wird tatsächlich übel! Bisher hatte ich diese ganzen psychosomatischen Zusammenhänge‹ zwar zur Kenntnis genommen, aber jetzt habe ich das von innen heraus gespürt. Was für eine Macht haben meine Gedanken und Gefühle! Mein Therapeut schlug mir dann ganz pragmatisch vor, diese Erkenntnis zu nutzen, um mir zukünftig positive Szenarien vorzustellen, natürlich insbesondere bei Auswärtsübernachtungen.
Eine überraschende Wende hatte es ja schon beim ›Gespräch‹ mit meinem Magen gegeben, der mir die Übelkeit bereitete (siehe → S. 119 ). Mit meinem eigenen Symptom zu reden:
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