Der Kreis aus Stein
Krieger auf den Mauern, doch irgend etwas an ihrer Aufstellung beunruhigte ihn – eine Unstimmigkeit, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er betrachtete die Männer, überprüfte ihre Abstände, ihre Bewaffnung, Rüstungen und Mienen. Er sah die Besorgnis in ihren Gesichtern, sah, daß die, die keine Rüstung trugen, gleichmäßig verteilt zwischen jenen standen, die eine trugen. Die Männer waren zu Kampftrupps zusammengefaßt – Spießträger und Schwertkämpfer zusammen, Bogenschützen dahinter.
Nichts, was er sah, erklärte die Besorgnis, die an ihm nagte.
Der Graben um die Burg war zu dieser Jahreszeit brackig und faul, eine Brutstätte für Moskitos und Krankheiten. Im Graben trieb eine Leiche. Obwohl das Wasser stand, wußte Raj Ahten von seinen eigenen Messungen, daß es recht tief war – gut vierzig Fuß. Zu tief, um das Steinfundament der Burg ohne weiteres von Sappeuren untergraben zu lassen.
Vergangene Woche hatte hier noch eine Stadt gestanden, eine kleine Ortschaft mit fünftausend Seelen. Über Generationen hatten sich die Stadtmauern unmerklich in die Reichweite der Burg geschoben. Im Schutz dieser Häuser hätte man Belagerungstürme heranschieben und Steine über die Festungsmauern schleudern können. Doch Ordens Soldaten hatten die Stadt klugerweise niedergebrannt, das Gelände in der Vorbereitung auf die Schlacht von jeglicher Deckung gesäubert.
Nein, diese Burg ließ sich nicht ohne weiteres einnehmen, nicht, solange vier-oder fünftausend Mann auf den Mauern standen und weitere in den Innenhöfen und Türmen warteten.
Die Burg war gut bewaffnet. Vor weniger als einer Woche noch hatte er stapelweise Pfeile in der Waffenkammer gesehen.
Er seufzte. Wenn Raj Ahtens Leute die Burg den Winter über belagerten, konnte es sein, daß Ordens Männer gezwungen sein würden, ein paar dieser Pfeile zu verbrennen, nur um etwas Wärme zu haben. Aber natürlich würde diese Belagerung nicht solange dauern.
Eine Stunde vor Mittag war General Vishtimnu immer noch nicht eingetroffen, und die ersten sechs Katapulte waren aufgebaut. Raj Ahtens Männer stellten einhundert derbe Sturmleitern her, schafften sie zum Hügel und legten sie dort ab, bereit für die Schlacht.
Die Weitseher in den Ballons konnten im Innern der Burg nur wenige Soldaten ausmachen – die meisten besetzten die Mauern, auch wenn mehrere hundert Ritter zu Roß im inneren Hof warteten. Von den Stadtbewohnern befand sich niemand innerhalb der Tore. Die einzige Ausnahme bildete möglicherweise der Bergfried der Übereigner, den zweihundert von Ordens besten Soldaten bewachten.
Vielleicht hatte Orden ein paar Menschen aus der Stadt Gaben entnommen oder hatte Hunderte von Übereignern heimlich im Bergfried untergebracht. Der Bergfried bot allerdings nicht vielen Platz.
Raj Ahten dachte über diese guten Neuigkeiten nach. Orden hatte zwar die Zwingeisen erbeutet, hatte hier aber keine vierzigtausend oder auch nur viertausend Personen, die ihm hätten Gaben überlassen können.
Das bedeutete, daß der weitaus größte Teil der Zwingeisen sich immer noch unbenutzt in der Burg befand.
Raj Ahten besaß vierhundert Zwingeisen aus dem Vorrat, den er zur Burg Sylvarresta mitgenommen hatte.
Er
rief
seine
Annektoren
und
machte
eine
Bestandsaufnahme. Die meisten Zwingeisen waren für ihn wertlos. Die Eisen wiesen nur Runen der Sinne auf. An zusätzlichen Gaben des Gehörs, des Geruchs-oder Tastsinns hatte er keinen Bedarf.
Bei der Unterwerfung Sylvarrestas hatte er die meisten Zwingeisen
für
die
Übernahme
von Hauptgaben
aufgebraucht. Keines aus seinem Vorrat wies Runen der Körperkraft oder Anmut auf. Für Geisteskraft dagegen hatte er viele. Zu seiner Überraschung fand er nur zwölf Zwingeisen, die Runen des Stoffwechsels trugen. Jetzt wünschte er, er hätte mehr mitgenommen. Ein kaltes Gefühl der Ungewißheit überkam ihn, als er darüber nachdachte. Seine Feuerdeuterin hatte einen Blick in die Zukunft geworfen, ihn gewarnt, es gäbe hier in Heredon einen König, der in der Lage sei, ihn zu besiegen. Sylvarresta hatte er bereits unterworfen. Also war es Orden.
Und Orden hatte mit Sicherheit Gaben des Stoffwechsels übernommen. Ein Runenlord seines Formats brauchte im Kampf weder zusätzliche Anmut noch Muskelkraft. Keine zusätzliche Geisteskraft. Durchhaltevermögen wäre vielleicht hilfreich. Die einzige Eigenschaft, die es ihm erlaubte, Raj Ahten zu besiegen, wäre Stoffwechsel.
Doch wieviel hatte Orden übernommen?
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