Der Kreis aus Stein
habe nachgelassen. Vielleicht ließ seine Wirkung niemals nach.
Doch das war nur eine der Veränderungen. Es geschah etwas noch viel Wundersameres. Er vermutete, wenn er es nur versuchte, dann könnte er jetzt viel weiter sehen, viel tiefer blicken. Er konnte sich des Erdblicks bedienen.
Er umarmte seinen Vater fest, schloß die Augen und versuchte mit seinem Herzen in das Innere von König Orden hineinzusehen.
Eine ganze Weile sah er nichts und fragte sich, ob er tatsächlich am Abend zuvor in Raj Ahtens Herz geblickt hatte.
Dann plötzlich, wie aus großer Ferne, bestürmte Gaborn ein seltsames Kaleidoskop aus Bildern und Gerüchen: anfangs sah er das Meer, die blauen Wellen des Ozeans, die stolz und kraftvoll unter klarem Himmel dahinwogten, die weiße Gischt, die auf den Strand zustrebte. Auf diesen Wellen ritten Gaborns Mutter und Schwestern und sogar er selbst, wie Robben tanzten sie im Wasser auf und ab, und auch König Sylvarresta war dabei. Gaborns Mutter jedoch war größer als alle anderen, so als sei sie ein gewaltiges Walroß, während die anderen nur kleine Seehunde waren. Gaborn hatte den Geschmack
von
frischem
Kürbisbrot
mit
Sonnenblumenkernen im Mund, den er dann mit Apfelwein hinunterspülte. In der Feme hörte er die Jagdhörner. Während er lauschte, spürte er die Bewegungen eines galoppierenden Pferdes unter sich, dann schien seine Brust vor überschäumender Freude gewaltig anzuschwellen, als er den Blick über die Dächer der Burg in Mystarria schweifen ließ und den lauter werdenden Jubel der Menschen hörte, die »Orden! Orden!« riefen.
Ein gewaltiges Gefühl ergriff von Gaborn Besitz, ein Gefühl von Liebe und von Wärme, als vereinigten sich alle zärtlichen Gefühle, die er je empfunden hatte, zu einem einzigen Schub.
Heute konnte Gaborn noch klarer sehen als am Tag zuvor. Er konnte in das Herz seines Vaters blicken, und da waren die Dinge, die der König liebte: das Meer, seine Familie, Kürbisbrot und Apfelwein, die Jagd und der Jubel seines Volkes.
Nach diesem Einblick zog sich Gaborn, plötzlich von Schuld geplagt, zurück. Warum tue ich das? fragte er sich. In die Seele des eigenen Vaters zu blicken, hatte etwas Verderbliches, war ein voyeuristischer Akt. Er besann sich auf seine Pflicht, besann sich auf die Geschichte darüber, was Erden Geboren bei der Auswahl seiner Krieger getan hatte. Gaborn hatte Angst um seinen Vater, wollte alles in seiner Macht Stehende tun, um ihn in dieser Angelegenheit, in seiner dunkelsten Stunde, zu beschützen.
Du wirst heute kämpfen, sprach Gaborn leise zu sich selbst, aber ich werde an deiner Seite sein.
KAPITEL 18
Ein Opfer wird ausgewählt
Der Wettlauf von den Sieben Steinen, um zu seiner Armee zu stoßen, war lang und hart, selbst für Raj Ahten. Ein Runenlord mit Gaben des Durchhaltevermögens und des Stoffwechsels kann schneller und weit länger rennen als andere Männer, aber das kostet Energie. Selbst ein Runenlord kann nicht endlos rennen.
So kam es, daß Raj Ahten zwar seine Armee lange vor dem Morgengrauen erreichte, aber der Preis dafür war hoch. Weil er weit über einhundert Meilen in voller Rüstung und ohne Nahrung getrabt war, hatte er fast zwanzig Pfund Körperfett verloren. Der Schweiß lief in Strömen an ihm herunter, daher hatte er, obwohl er oft hielt, um aus Bächen und Pfützen Wasser zu trinken, zusätzlich zehn Pfund Körperflüssigkeit verloren. Die Schläge gegen seine Nieren und Knochen hatten ihn geschwächt. Dies war nicht der Zustand, den er sich zum Kämpfen ausgesucht hätte.
Unterwegs entdeckte Raj Ahten Anzeichen dafür, daß seine Armee, die vor ihm herzog, ins Stocken geraten war. Dutzende von Pferden waren, noch in ihrer Rüstung, neben der Straße gestürzt Ein weiteres Dutzend Fußsoldaten war auf dem Marsch zusammengebrochen. Er sah Frowth-Riesen und Mastiffs besinnungslos neben Pfützen liegen, japsend, überhitzt vom Rennen.
Als er seine Truppen erreichte, machte es ihm nichts aus, daß seine Soldaten an der zerstörten Brücke in Hayworth aufgehalten worden waren, denn die Verzögerung hatte sie nur vier Stunden gekostet. Vier Stunden, die er mit Essen und ein wenig Ruhe verbrachte, während er den Rest des Weges nach Longmot ritt.
Den ganzen Weg über war er besorgt. Jureems Verrat und seine Flucht in die Nacht, die düsteren Omen bei den Sieben Steinen – das alles lastete schwer auf ihm. Doch Raj Ahten ließ beides außer acht. Er wollte in Longmot nur eins, seine Zwingeisen.
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