Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Nein, Gott hatte den Menschen nicht erschaffen, damit er sterbe – auch das hatte David aus der Bibel gelernt: »Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit. Auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt.« Wohnte nicht jedem Menschen dieses unstillbare Verlangen inne über den Tod hinaus weiterzuexistieren, und wenn es nur durch prächtige Mausoleen, Denkmäler, künstlerische Werke oder wohltätige Stiftungen war? Doch wenn den Menschen schon nichts als diese jämmerliche Form der Ewigkeit geblieben war, dann sollte man ihnen diese wenigstens nicht auch noch nehmen.
Solange du den Tag deines Todes nicht kennst, lebst du in der Ewigkeit.
David war sich dieses Gedankens nie so bewusst gewesen wie jetzt. Doch nun war diese tröstliche Vorstellung aus seinem Herzen gerissen worden. Zurück blieb eine blutende Wunde. Ab jetzt wusste er, an welchem Tag, nein, in welcher Sekunde ihn sein Schicksal erwartete. Und das wollte er sich nicht gefallen lassen.
Es klopfte an der Tür. Zuerst leise, dann immer lauter. Wie aus einem Opiumrausch kämpfte sich Davids Bewusstsein in die Wirklichkeit zurück. Er blickte benommen auf. Neben sich sah er die Schatulle auf dem Tischchen liegen. Das Diarium hatte sich davongemacht – vom Schoß abwärts über die ausgestreckten Beine –, jetzt blinzelte ihm der Goldschnitt im Licht der Leselampe vom Boden her zu. Das übrige Zimmer war stockdunkel. Es klopfte abermals.
»Hm?«
»David, bist du wach?« Die dumpfe Stimme von draußen gehörte Sir William.
»Ja.«
»Könntest du mich bitte reinlassen? Ich muss dir etwas Dringendes mitteilen.«
»Natürlich.«
»Dann müsstest du allerdings die Tür aufschließen.«
»Oh! Moment.« Das war David ganz entfallen. Er hatte nach der dritten Störung – dem Versuch ihn zum Abendessen zu verschleppen – die Tür zu seiner Zimmerflucht verschlossen. Schleppenden Schrittes ging er zur Tür. Mit Sir William betrat auch eine beinahe sichtbare Unruhe den Raum.
»Was ist denn passiert?«, brummte David.
»Ich habe soeben einen Anruf erhalten.«
»Schon wieder der Yard?«
»Nein, die Feuerwehr.«
Endlich wurde David wach. »Doch nicht…?«
Sir William nickte schwer. »Camden Hall brennt lichterloh.«
»Was ist mit der Dienerschaft?«
»Ba-… Bap-… Bappap-…«
»Batuswami Bhavabhuti?«
»Ja, euer indischer Leibwächter und Arthur haben das ganze Personal rechtzeitig evakuieren können. Anscheinend sind alle mit dem Schrecken davongekommen.«
David ließ seinen Blick in die Schatten des Zimmers abgleiten. Er atmete schwer. Ein schlimmer Verdacht drängte sich ihm auf. »Hat man schon feststellen können, was den Brand ausgelöst hat?«
»Nein, er ist ja noch nicht einmal gelöscht worden. Bevor das nicht geschehen ist, kann die Feuerwehr auch den Brandherd nicht finden. Oh, David! Das tut mir alles so Leid! Als wenn das tragische Unglück deiner Eltern nicht schon schlimm genug wäre, muss ich dir nun auch das noch mitteilen.«
David reagierte nicht. Sein Oberkörper war zur Seite gewandt.
Sir William rang mit sich, ob er diesen beklagenswerten Menschen wie am Morgen noch einmal in die Arme nehmen sollte, aber irgendetwas ließ ihn zaudern. Er fühlte sich von der Situation überfordert, was ihn wohl mehr beunruhigte als die Stafette der Hiobsbotschaften. Hilflos blickte er auf Davids weißen Hinterkopf. Er glaubte, der junge Mann wolle seine Tränen nicht zeigen, aber in diesem Moment spielte sich in dessen Seele etwas viel Schwerwiegenderes ab. Ahnungslos griff der Anwalt zur Rettungsleine unbeholfener Trostesworte.
»Selbst wenn Camden Hall bis auf die Grundmauern abbrennt, bleibst du ein sehr vermögender junger Mann, David. Dir stehen alle Türen offen – dafür werde ich schon sorgen. Bitte mach dir nicht solche Sorgen um das Haus. Es ist zwar der Stammsitz deiner Familie, aber wie ich dich einschätze, ist es für dich doch sowieso nie ein richtiges Zuhause gewesen…«
»Das Haus ist mir völlig egal!«, entfuhr es David ungewöhnlich schroff. Er atmete tief, versuchte sich Ruhe aufzuerlegen. »Ich möchte nur, dass für die Dienerschaft gesorgt wird. Wenn Sie sich bitte für sie verwenden würden, Sir.«
»Was meinst du damit, David? Wir werden für dich ein anderes Domizil finden und dann nimmst du dein Personal einfach dorthin mit.«
David antwortete nicht sogleich. Aber dann wandte er sich wieder dem Anwalt zu. Sir William erschrak. Er blickte in ein Gesicht, aus dem jede Kindlichkeit verschwunden war. Es gab
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