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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Kilometer das Schuhwerk erheblich weniger strapazierten als zwanzig Meilen.
    Noch waren die jungen Krieger solcher Erfahrungen ledig, denn zunächst erfreuten sie sich noch des Komforts von Eisenbahnwagen. Streng genommen boten die Waggons wenig Bequemlichkeit, aber immerhin genug Platz: Sie waren für die Beförderung von Schlachtvieh gebaut worden. Von Cherbourg aus zuckelte die Dampflok zunächst über Caen und Rouen nach Osten und schwenkte dann in nördliche Richtung.
    Weil der Juni schön und das Innere des Waggons warm war, hatte Nick den grandiosen Einfall gehabt, die Schiebetür während der Fahrt zu öffnen. Das war zwar nicht erlaubt, aber so konnte man sich den Fahrtwind um die Nase wehen lassen und gleichzeitig die Schönheiten der Picardie, einer lieblich ländlichen Gegend in Nordfrankreich, genießen.
    Nick saß in der geöffneten Tür, ließ die sonnenüberflutete Landschaft an sich vorüberziehen und spielte wie üblich mit seiner Münze. Er hatte den Silberling auf dem Pflaster im Hafen von Cherbourg gefunden und ihn darauf zu seinem persönlichen Glücksbringer auserkoren. David stand neben dem Freund, die Schulter an die Innenwand des Wagens gelehnt, und sah dem müßigen Spiel zu. Plötzlich schrie er auf.
    »Lass das, Nick!«
    Schon sah er, wie Nicks Finger die Münze ein klein wenig zu weit nach außen schnippte. Jetzt bemerkte auch der Freund die verkehrte Flugbahn und jagte dem Geldstück mit seiner Rechten nach. Dabei verlor er das Gleichgewicht. Einen schrecklichen Augenblick lang balancierte er noch mit dem Hintern auf der Kante, mal mehr drinnen, dann wieder gefährlich weit draußen. Unter ihm sauste der Bahndamm dahin. Seine Linke suchte nach einem rettenden Halt, fand ihn aber nicht. Dann kippte Nick hinaus – und wurde im letzten Moment von David am Kragen gepackt. Der Fahrtwind schnappte sich dafür die Münze.
    »Bist du wahnsinnig!«, schimpfte David, nachdem er den Freund zurück in die Sicherheit des Waggons gezerrt hatte. »Deine alberne Spielerei wird dich noch umbringen.«
    Es war typisch für Nicks einfach strukturierte Denkweise, schon wieder grinsen zu können. »Ich hätt mich schon noch irgendwie gefangen. Mach dir keine Sorgen um mich. Schade nur um den Glücksbringer.«
    »Nennst du es Glück, wenn du aus einem fahrenden Zug fällst?«, schnaubte David wütend.
    Nick ließ sich in seiner guten Laune nicht erschüttern. »Ich bin doch nicht gefallen. Du hast mich gerettet, David. Ist das etwa kein Glück? Übrigens: danke dafür.«
    David zog sich verärgert in eine ferne Ecke des Waggons zurück. Er war Nick nicht wirklich böse. Aber er hatte sich um ihn gesorgt. Allmählich dämmerte ihm, dass dieser Ausflug nach Frankreich noch zu einem großen Problem werden könnte: Wenn er in diesem Krieg starb, wer würde dann auf diesen großen, tollpatschigen Jungen namens Nicolas J. Seymour aufpassen?
    In Amiens war vorerst Endstation. Der Zug hielt an einem Bahnsteig, auf dem man mehr Uniformen sah als zivile Kleidung. Ein Major und ein Corporal erwarteten die Neuzugänge bereits. Sie teilten dem zuständigen Offizier mit, dass leider keine ausreichenden Transportkapazitäten zur Verfügung ständen, um die Ankömmlinge ins Sammellager zu verbringen. Nun hieß es also marschieren. In Zweierreihen trabten die Rekruten Richtung Nordosten durch die Stadt, winkten kleinen Kindern zu und wunderten sich über die wahllos angebrachten Löcher in den Hauswänden.
    Das Heerlager befand sich an der Straße nach Querrieu, etwa drei Kilometer außerhalb von Amiens. Hier, im Herzen der Picardie, begann nun das Warten. Bis zur Frontlinie waren es nur ungefähr fünfundzwanzig Kilometer. Aus der Ferne konnte man manchmal das dumpfe Donnergrollen der Geschütze hören. Einige Soldaten klagten über Schlafstörungen.
    Auch rund um das Heerlager waren Spuren von Zerstörung zu sehen, und von einigen Kameraden, die sich bereits länger hier aufhielten, erfuhren die Neuankömmlinge den Grund dafür: Diese Gegend hatte sich im Spätsommer 1914 schon einmal für kurze Zeit in deutscher Hand befunden. Darauf waren die französische Armee und das Britische Expeditionskorps massiv und auf breiter Front gegen den Feind vorgegangen. In der Marneschlacht, weiter südwestlich von hier, sah es für die Verteidiger zunächst überhaupt nicht gut aus, aber dann geschah das, was die Alliierten als das »Wunder an der Marne« bezeichneten: Der deutsche Chef des Generalstabes des Feldheeres, Helmuth von

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