Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
von Schlamm. Automobile blieben darin hoffnungslos stecken und man besann sich wieder auf das Pferd.
Obwohl es David nicht für möglich gehalten hatte, wurde das Leben in den Gräben nun noch unerträglicher. Die Soldaten steckten oft metertief im Schlamm. Vom Himmel regnete es Wasser, Kugeln und Granaten. Auf engstem Raum zusammengepfercht froren, aßen, tranken, lebten und starben die Männer. Über den Grabenrand hinweg mussten die feindlichen Stellungen unablässig beobachtet werden, was an manchen Regentagen so gut wie unmöglich war. Wurde ein Gegner entdeckt, sollte er abgeschossen werden. Natürlich begab sich der Schütze dadurch selbst in die Gefahr vom Feind ins Visier genommen zu werden. Wenigstens hatten die Tommys Helme, was hier und da doch einmal ein Leben rettete. Von der russischen, teilweise auch von der österreichisch-ungarischen Armee wusste David, dass sie nicht einmal diesen schwachen Schutz gegen die Waffen der neuen Zeit besaßen. Die Soldaten im Osten kämpften beinahe noch wie zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon I. Aber wer konnte schon, selbst hier an der Westfront, behaupten, er sei ausreichend für den »modernen Krieg« ausgebildet worden?
Mitte November brachte der Herbstregen die Operation endgültig zum Stillstand. Am Tag bevor die Heeresleitung alle weiteren Attacken abblies, war Corporal O’Brien von einer deutschen Granate zerrissen worden. David wusste es so genau, weil er es selbst gesehen hatte. Diese erste Schlacht an der Somme hatte die deutschen Truppen vor Verdun zwar gespalten, aber ansonsten war sie ein jämmerlicher Fehlschlag gewesen. Vierhundertzwanzigtausend Briten und zweihunderttausend Franzosen hatten in weniger als fünf Monaten ihr Leben verloren. Aber auch vierhundertfünfzigtausend Deutsche. Mit diesem Preis hatten die Alliierten einen Fortschritt von sage und schreibe acht Kilometern erkauft. Welch ein Wucher! Ein Menschenleben für sieben Komma fünf Millimeter.
Heeresführungen hassen es, wenn ihnen das Wetter ins Handwerk pfuscht. Zwar konnten sie im Großen Krieg hier und da auch einmal Nebel oder andere Imponderabilien der Natur für ihre eigenen Zwecke nutzen, aber im Großen und Ganzen störten diese himmlischen Einmischungen nur.
Der einfache Soldat mochte da etwas anders denken. Zwar war der Gedanke an eine Überwinterung im Schützengraben alles andere als anheimelnd, doch gegen Sturmläufe in feindliches Maschinengewehrfeuer immer noch eine ganz passable Alternative.
Das Gemetzel war in der Zwischenzeit auch bei Verdun zum Erliegen gekommen, nachdem große Teile des von den Deutschen eroberten Territoriums wieder von den Franzosen zurückgewonnen worden waren. An diesem Frontabschnitt hatten innerhalb von neun Monaten mehr Männer das Leben verloren, als mit Napoleons Armee in Russland einmarschiert waren.
Aus Wien hörte man derweil, dass Kaiser Franz Joseph I. sich jeder Verantwortung für das österreichisch-ungarische Kriegsdebakel auf elegante Weise entzogen hatte: Er war am 21. November auf seinem Geburtsschloss Schönbrunn verstorben. Ganz Wien trauerte um »den letzten Monarchen der alten Schule«, wie dieser sich selbst einmal genannt hatte. Sein Nachfolger Karl L versprach »alles zu tun, um die Schrecknisse und Opfer des Krieges in ehester Frist zu bannen«. Aber selbst Kaisern waren bisweilen die Hände gebunden.
David und Nick verbrachten den größten Teil des ausgesprochen strengen Winters in einem Erdloch, das sich im zweiten Untergeschoss des Grabensystems befand. Ein Kanonenofen verströmte die Illusion von Wärme und genügend Qualm, um einem ständigen Hustenreiz Vorschub zu leisten.
David hatte sich inzwischen zum Protege eines der Stabsärzte entwickelt. Sein unermüdlicher Einsatz im Dienste der Kameraden war unter den Sanitätern und in den Lazaretts zu einem Quell immer neuer Geschichten geworden, deren Wahrheitsgehalt jedoch oft sehr zu wünschen übrig ließ.
Einige Legenden um den hoch gewachsenen Rekruten klangen zwar unglaublich, entstammten aber sehr wirklichen Praktiken, die David nun schon seit Jahren pflegte, wenn auch bisher nicht in einer derart bleihaltigen Umgebung.
Noch bevor die Sonne aufging, kletterte er allmorgendlich aus dem Graben, entblößte seinen Oberkörper und absolvierte mit dem katana und dem wakizashi seinen Schattenkampf, bis ihm der Schweiß über Brust und Rücken lief. Manchmal gab ein Scharfschütze einen Schuss auf ihn ab, doch nachdem nie eine Kugel traf,
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