Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
ganz besonderen Art. Wenn wieder mal ein Sturm auf die feindlichen Gräben befohlen wurde, versteckte David seine Kampfausrüstung in irgendeinem Bombenkrater, rettete heimlich ein paar Verwundete und kehrte dann später mit seinem Karabiner und Bajonett zurück. Abgesehen von den Scharfschützen führte niemand in diesem Krieg wirklich Buch darüber, wie viele Feinde er umgebracht hatte. Das Töten war längst zu einer anonymen, unpersönlichen Sache geworden: Man schoss ins Nichts, bombardierte Land und manchmal traf man dabei eben einige namenlose Kameraden. Nur wer schon einmal sein aufgepflanztes Bajonett in eine fremde Uniform gestoßen hatte und anschließend die blutigen Folgen mit ansehen musste, erlangte tiefere Einblicke in das jahrtausendealte Wesen des Krieges.
Mit besonderer Sorge verfolgte David die Veränderungen an seinem Freund Nicolas. Aus dem unbekümmerten Westminster-Schüler war ein ernster junger Mann geworden, der während der Wache im Schützengraben oft stundenlang teilnahmslos vor sich hin brütete. Das Einzige, was er dann von sich hören ließ, war das Schnippen seiner Finger, wenn er sein Sixpencestück in die Luft warf und wieder auffing. Nur ganz selten blitzte noch Nicks unkomplizierte Wesensart hervor.
Solange er seinen Freund nun schon in diesem unseligen Krieg beobachtete und dabei seine schützende Hand über ihn hielt, hatte er ihn noch nie einen gezielten Schuss abgeben sehen. Ab und zu jedoch schien sich Nick mutwillig in Gefahr zu begeben, indem er sich klammheimlich davonstahl David zerbrach sich den Kopf darüber, was sein Freund in dieser Zeit anstellte. Suchte er selbst den Tod? Oder brachte er ihn anderen? Wollte er, weil er Davids diesbezügliche Ansichten kannte, nur nicht gesehen werden, wenn er sich mit brutaler Gewalt über den Feind hermachte? Nein. David schüttelte den Kopf. Nicht Nick. Er würde das nicht tun. Nicht der Junge, der damals vor der Abtei auf ihn losgegangen war…
Es war der 9. April. Am Horizont ging gerade die Sonne auf. Die Morgenluft strömte wie kaltes Gebirgswasser durch Davids und Nicks Lungen. Sie hatten in der Nacht einen vorgeschobenen Beobachtungsposten bezogen. In gewisser Hinsicht war dieses Kommando das Resultat einer, wie David fand, hundsgemeinen Erpressung. Corporal Clockwise hatte ihm hinterhergeschnüffelt und dabei die Jungfräulichkeit von Davids Karabiner festgestellt. Von dieser Entdeckung ausgehend, war es ein Kinderspiel für Clockwise, im Lazarett die dankbaren Männer aufzuspüren, denen David in der letzten Zeit das Leben gerettet hatte. »Clockwise war fuchsteufelswild«, berichtete später einer der Patienten seinem Retter.
Der Corporal stellte David vor die Alternative: entweder eine Verurteilung wegen Befehlsverweigerung oder der Dienst als Spähposten im Niemandsland. David war intelligent genug, um seine Lage realistisch einzuschätzen: In einem ordentlichen Kriegsgerichtsverfahren – wenn es denn überhaupt zu einem solchen kommen würde – konnte man ihm sein Verhalten leicht als Verrat, Fahnenflucht oder Spionage für die gegnerische Seite auslegen. Offiziere kannten tausend Gründe, um ihre Exekutionskommandos in Schuss zu halten. Ihm selbst wäre es egal gewesen, aber er musste ja auf Nick aufpassen.
Als dieser von Davids »Strafversetzung in die Hölle« hörte, hatte er sich freiwillig dazugemeldet. Clockwises ganze Reaktion war ein schmieriges Grinsen gewesen, gefolgt von einem sparsamen Nicken.
Jetzt saßen beide in ihrem Loch und warteten auf den Angriff der Briten. Während Davids Augen die gegnerische Grabenlinie absuchten, die weniger als zweihundert Meter weit entfernt war, bewachte Nick das Telefon. Die Alliierten hatten ihre Stellungen mit kilometerlangen Kabeln durchzogen, um Nachrichten schnell von einem Punkt zum nächsten zu übermitteln. Angeblich waren die Deutschen sogar noch fortschrittlicher und verständigten sich elektromagnetisch durch die Luft, was immer das hieß.
David drehte sich kurz zu den eigenen Gräben um. Noch war nichts von der ersten Angriffswelle zu sehen. Oftmals wusste der gemeine Fußsoldat nicht einmal, welche strategische Absicht hinter seinem Kampfbefehl steckte, aber von Dr. McSmollet hatte David einige Hintergründe über ihr heutiges Unternehmen erfahren. Die Offensive gehörte zu General Nivelles Gesamtkonzept zur Niederwerfung des Feindes. Dem Franzosen war sauer aufgestoßen, dass der deutsche Rückzug auf die Siegfriedstellung seinen ganzen
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