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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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stellte der Feind seine Bemühungen ehrfürchtig ein.
    So kam es, dass im Spätsommer und Herbst, als die Frühnebel Davids seltsames Spiel mit einem unwirklichen Schleier verzauberten, in den Gräben hüben wie drüben eine merkwürdige Legende entstand. Es hieß, der Geist eines unbekannten Soldaten warte da draußen auf die Befehlshaber, die ihn und seine Kameraden in den Tod geschickt hatten. Bisher war jedoch noch kein einziges Mitglied des Generalstabs erschienen, weshalb der Geist sich mit der Zerstückelung unsichtbarer Bösewichter in Form hielt.
    David war der Meinung, jede Form von Aberglauben knechte die Menschen genauso wie Erlasse und Verbote von Fürsten und Pfaffen. Er konnte nur den Kopf schütteln, wenn er hörte, was man ihm alles andichtete. Nichtsdestotrotz gehörten okkulte Praktiken jedweder Art bei vielen Soldaten – und übrigens auch bei ihren Angehörigen in der Heimat – zu den normalsten Dingen der Welt. Da, wo der Tod, manche sagten auch, das Schicksal, derart großzügig mit dem Leben der Menschen umging, wollte jeder gerne wissen, was die Zukunft ihm beschied. Also las man aus Kaffeesatz und Handlinien, man ließ Pendel schwingen und konsultierte Kartenspiele sowie dubiose Geistermedien. David betrachtete derlei Praktiken mit Abscheu. Obwohl gerade unter Engländern sehr beliebt, hatte seine Mutter ihn immer eindringlich vor der Gefahr von spiritistischen Spielereien gewarnt und seitdem er das Vermächtnis seines Vaters mit sich herumtrug, empfand er das Walten obskurer übernatürlicher Kräfte als eine Vergewaltigung an der menschlichen Natur.
    Besagter Doktor, der sich selbst zu Davids Mentor ernannt hatte, glaubte als moderner Akademiker nicht im Geringsten an die Ammenmärchen, die in den Schützengräben über David erzählt wurden. Er schätzte den jungen Mann wegen dessen unglaublicher Opferbereitschaft im Dienste des Mitmenschen und weil David einen so außergewöhnlichen Scharfsinn besaß. Dr. McSmollet hielt wirklich große Stücke auf ihn. Er zeigte ihm so manchen Kniff, der Leben retten konnte, und redete unermüdlich auf ihn ein, er solle nach dem Krieg ja nicht vergessen den Nobelpreis für Medizin zu gewinnen – das Zeug zu einem guten Arzt hätte er jedenfalls.
    Hin und wieder gelang es David, dem Doktor eine Zeitung abzuluchsen. Ende Dezember fiel ihm dabei ein Artikel in die Hände, der angesichts des allgegenwärtigen Grauens beinahe komisch anmutete. Es ging darin um seinen alten Freund Hito. Am 3. November hatten japanische Zeitungen ein Bild des Prinzen in der Uniform eines Kapitäns zur See abgebildet und gleichzeitig bekannt gegeben, dass ebendieser Kapitän nun der neue Kronprinz sei. Das Foto zeigte dieselben traurigen Augen, versteckt hinter dicken Brillengläsern. Dann ging der Bericht auf einige fast schon absurde – aber eben typisch japanische – Ereignisse ein. Hirohito plane sich zu verloben, hieß es da.
    Raumgreifender als vielleicht nötig, erging sich das Blatt nun über des Prinzen Verhältnis zum weiblichen Geschlecht und David entdeckte einiges, das ihm noch aus eigener Erfahrung bekannt war. Nach General Nogis Selbstmord, so war der Zeitung von einem ungenannten Hofbeamten gesteckt worden, bemerkte Hirohitos Vater in einer seiner seltenen Phasen geistiger Klarheit, wie bekümmert sein Sohn war. Um den Schmerz des gerade Elfjährigen zu lindern, ließ er ihm eine seiner jüngeren Konkubinen schicken. Es sei bezeichnend für den Prinzen, hieß es weiter, dass nur er keine Ahnung von dem Sinn ihres Auftrages hatte, wenn ihn auch ihre Sympathiebekundungen nicht unbedingt schockierten. David schüttelte empört den Kopf – solche Schmierenartikel würde er niemals schreiben – und im Stillen verteidigte er seinen Freund. Hito war einfach anders als die restlichen seiner paar Millionen Altersgenossen. Kein Grund, sich darüber lustig zu machen. Dann las David weiter.
    Nun hätten die weisen Männer dem Kronprinzen eine Braut ausgesucht, damit er künftig auf keusche Weise den Mannespflichten nachkommen könne. Die Beneidenswerte hieß Nagako und war die älteste Tochter des Fürsten Kuniyoshi Kuni. David kannte ihn. Als Kind hatte er ihn Kunibert genannt. Kuniyoshi Kuni war einer der liebenswürdigsten Taugenichtse der japanischen Aristokratie. Nun – und damit begann für David die ganze Bizarrheit dieses Berichts – war in Japan ein heftiger Streit ausgebrochen, der sogar bis in die Zeitungen schwappte. Die alte Rivalität zwischen dem

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