Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Angst. War nur ein Scherz.«
Ihre Tochter ließ sich dadurch trotzdem nicht aufheitern. Erregt sprang sie vom Tisch auf, stieß dabei ihren Stuhl um und stürzte aus dem Esszimmer.
»Was hat sie, Sahib?«
David antwortete nicht, er studierte die Brüsseler Spitze am Tischtuch.
»Liebeskummer«, antwortete Marie. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.« Sie tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab und verließ den Tisch.
Rebekka ließ sich an diesem Abend bei den Gästen nicht mehr blicken. Marie war das Verhalten ihrer Tochter sichtlich peinlich. Verlegen lächelnd erklärte sie den beiden am Esstisch Wartenden, dass Bekka wohl etwas länger brauchen würde, um die Nachricht von der unerwartet frühen Abreise ihres »Bräutigams« zu verarbeiten. David dämmerte erst jetzt, wie stark die Gefühle waren, die das Mädchen für ihn empfinden musste. Er hatte ihre Heiratsanträge immer mehr für Scherze gehalten, bestenfalls für die federleichten Schwärmereien eines unreifen Mädchens. Aber nun musste er sich eingestehen, es steckte erheblich mehr dahinter.
Balu Dreibein hatte die Abreise für Mittwoch geplant. Alles war schon festgelegt. Von Hazebrouck würden sie mit der Bahn direkt bis ins nahe Calais fahren. Von dort aus sollte es dann per Schiff weitergehen. Die Amerikaner brachten jeden Monat ungefähr dreihunderttausend Soldaten nach Europa. Eine Passage in die umgekehrte Richtung zu bekommen war einfach. Auch das hatte Balu in Sir Williams Auftrag bereits geregelt. Von Dover aus war es nur noch ein Katzensprung bis nach London.
Am Montag und Dienstag verbrachte David noch einmal viel Zeit mit Rebekka. Sie machten lange Spaziergänge durch Hazebrouck und die nähere Umgebung. Selbst der Krieg hatte dem Wonnemonat Mai nicht alle Schönheit rauben können, wenngleich Rebekka sich nicht recht darüber freuen konnte. David verwickelte sie in stundenlange Gespräche, um sie aufzuheitern. Vergeblich. Er spürte, wie schwer ihr Herz war. Ihr Lachen hatte sie in einen fernen Winkel ihrer verwundeten Seele verbannt.
Am Mittwoch früh hieß es dann am Bahnsteig Abschied nehmen.
Marie bedankte sich noch einmal beim Retter ihrer Tochter und überschüttete ihn mit Segenswünschen für sein weiteres Leben. Etwas von ihrem Glück schwappte auch auf den kleinen Balu über, weil dieser den hageren Helden ja schließlich vor einer Rückkehr aufs Schlachtfeld bewahrt hatte – und weil er gerade zufällig daneben stand. Während Marie noch den verdutzten Inder umarmte und ihm dicke Küsse auf beide Wangen drückte, wandte sich David ihrer Tochter zu.
»Ich werde dir schreiben.« Mit diesem Versprechen hoffte er ihren Schmerz zu lindern und heftigeren Gefühlsausbrüchen vorzubeugen.
»Das sagen die Soldaten immer. Ich kenne das, aus Mutters Lazarett.«
»Ich stecke zwar noch in einer Uniform, aber im Herzen war ich nie ein Soldat. Du wirst deinen Brief von mir bekommen.«
»Nur einen?«
»Ein ganzes Bündel.«
Nun fing Rebekka doch an zu weinen. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, blickte beschämt zu Boden, aber das Schniefen kam immer häufiger.
David fühlte sich elend wie lange nicht mehr. Auch er war den Tränen nahe. Unbeholfen streichelte er Rebekkas Wange. »Weine nicht, mein kleines Mädchen. Deine ganze Zukunft liegt noch vor dir. Du wirst mich irgendwann vergessen.« Seine Stimme klang brüchig.
»Nein, niemals!«, protestierte Rebekka empört. »Ich werde mein Leben lang keinen anderen Mann ansehen.«
Es war sinnlos, sie auf ihr Alter hinzuweisen. David hatte in den letzten Wochen längst begriffen, dass derart vernünftige Argumente an diesem Mädchen abprallten wie Pistolenkugeln an einem englischen Mark-V-Tank. »Ich werde dich nie vergessen, kleine Bekka. Das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist. Du hast mir das Leben gerettet. So etwas kann man gar nicht vergessen.«
»Du hast mich gerettet«, widersprach Rebekka.
David lächelte mild. »Dann verbindet uns beide jetzt ein Band, das sogar über den Tod gesiegt hat. Trage es in deinem Herzen als ein Geschenk, das wir uns einander gegeben haben.« Er beugte sich, ein wenig linkisch, zu Rebekka hinab und küsste sie leicht auf die Stirn. »Lebe wohl, mein kleiner Engel.«
Rebekkas traurige tränenfeuchte Augen funkelten ihn für einen Moment wie polierte Jettsteine an. Dann stellte sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Isaak flüchtig auf den Mund. Ehe Davids Verstand dieses interessante Gefühl
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