Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
kam, klang es wenig ermutigend für David.
Im Moment führt Mitsuru Toyama seine Angriffe noch indirekt gegen mich aus, aber das kann sich schnell ändern. Erst kürzlich hat er von seinen fanatischen Mitarbeitern einige Artikel in die Presse schleusen lassen. Darin wurden den kaiserlichen Beratern schwere Vorwürfe gemacht. Sie hätten mir untersagen müssen mich dadurch zu erniedrigen, dass ich mit Ausländern und anderen untergeordneten Leuten umgehe, als seien sie mir ebenbürtig, schrieben die Blätter. Verantwortungsbewussten Japanern wäre natürlich klar, dass wegen der internationalen Beziehungen ein königlicher Gast aus Großbritannien vom Prinzregenten empfangen und mit Höflichkeit behandelt werden müsse – aber sei es denn wirklich nötig, mit ihm zu Fuß spazieren zu gehen und ihn anzulächeln? Erwecke das nicht den Anschein, als sei die Kaiserfamilie unterwürfig?
Du kannst dir vorstellen, David-kun, wie zermürbend Toyamas Propaganda für mich ist. Wie kann ich noch annehmen, dass mein Gast, der Prinz von Wales, bei mir wirklich sicher ist?
Ich werde dennoch meine Nachforschungen in Hinblick auf den Kreis der Dämmerung und Toyamas mögliche Verbindungen dazu weiterführen. Es kann allerdings noch Monate, wenn nicht gar Jahre dauern, bis wir diesem gerissenen Ganoven auf die Schliche kommen, weil ich in aller Verschwiegenheit handeln muss. Bitte habe Verständnis dafür. Und noch einmal: Benutze bitte ausschließlich Dr. Hattoris Adresse, wenn du mir schreiben willst.
Zeit ist der Stoff, aus dem das Leben ist. Vielen Dank, David-kun, für die Bahnen, die wir uns davon teilen durften. So verbleibe ich
in freundschaftlicher Verbundenheit,
Dein Hirohito
Einerseits war David enttäuscht über das dürftige Ergebnis von Hitos Recherchen, in gewisser Hinsicht konnte er sich aber auch eines Gefühls der Erleichterung nicht erwehren, denn was sollte er tun, wenn er wirklich den eindeutigen Beweis für Toyamas Zugehörigkeit zum Kreis der Dämmerung in den Händen hielt? Er würde kaum jemanden finden, der sich bereit erklärte diesen gefährlichen Menschen festzunehmen. Selbst wenn man den Kopf der Geheimgesellschaft Schwarzer Drache ins Gefängnis steckte, wäre er vermutlich in kürzester Zeit wieder auf freiem Fuß.
Die Konsequenz daraus war erschreckend. David würde zwangsläufig selbst handeln müssen. Das hieß für ihn, nach Japan reisen, Toyama ausfindig machen und ihn mit dem katana in zwei Hälften teilen – irgendetwas in der Art. Nein, es war schon ganz gut, noch zu warten, bis er von Hito brauchbarere Beweise für Toyamas Schuld bekam.
Mit gemischten Gefühlen verdrängte David die nagenden Zweifel und stürzte sich wieder in seine Studien.
Erst eine Nachricht im Sommer 1922 rüttelte ihn erneut aus seiner ganz dem Wissenserwerb gewidmeten Versenkung. In Berlin war Walther Rathenau, der deutsche Reichsaußenminister, ermordet worden. Unweigerlich fielen ihm Hitos Schilderungen von dem Attentat auf den japanischen Premierminister wieder ein. Es hatte während Davids Studienzeit zahlreiche Vorfälle dieser Art gegeben, aber aus irgendeinem Grund beendete diese Nachricht Davids mentale Entrückung aus der Welt – vielleicht weil die Zeitungsmeldung behauptete, der Anschlag auf Rathenau sei bereits der dreihundertsechsundsiebzigste politische Mord in Deutschland seit 1919.
Mit der Zeitung unter dem Arm – es war die Times vom 25. Juni – fuhr er sogleich nach London. Sir William hatte an diesem Wochenende nicht mit ihm gerechnet und deshalb traf David Hannibal’s Court verwaist vor. Nur eine dreiköpfige »Notmannschaft« des Dienstpersonals war zurückgeblieben, auch Balu war außer Haus. Elsa begrüßte den Earl überschwänglich an der Tür.
David dankte ihr, stattete dem Tresor in Sir Williams Arbeitszimmer einen kurzen Besuch ab und verzog sich anschließend in seine Zimmerflucht, die ihm immer zur Verfügung stand, wenn er in London weilte. Eigentlich war er ganz froh weder Sir William noch Balu anzutreffen, so konnte er sich ganz auf den eigentlichen Zweck seines Kommens konzentrieren: das Diarium seines Vaters.
Es dauerte nicht lang und er hatte die Passage gefunden, in der das Manifest des Geheimbundes beschrieben wurde, vorgetragen vom Schattenlord persönlich.
Lord Belial sagte weiterhin: »Auch Attentate sind ein adäquates Mittel, um die stützenden Elemente der Gesellschaft zu entfernen und radikaleren Geistern den Weg zu ebnen.«
David erinnerte sich
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